Menu

Jacques Stéphen Alexis

Der Stern Wermut

Inhalt

Églantine, vormals La Niña Estrellita, hat ihrem früheren Leben als Star der Sensation Bar den Rücken gekehrt und sucht einen Neuanfang. Eine Bekannte rät ihr, in den Salzhandel einzusteigen, ein lukratives aber riskantes Unternehmen. Die beiden Frauen chartern einen Segler und wagen die Überfahrt zur Grande Saline. Sie geraten in ein apokalyptisches Unwetter …

Die fragmentarische Fortsetzung von Jacques Stéphen Alexis‘ Roman L’espace d’un cillement (dt. Die Mulattin), entstanden kurz vor seinen frühen Tod, illustriert in ihrer eruptiven Expressivität Alexis‘ Konzept des wunderbaren Realismus. Sie wurde im Original erst 2017 aus dem Nachlass des Autors veröffentlicht. In dem Jahr, in dem Alexis‘ Ermordung sich zum sechzigsten Mal jährt, erscheint sie auch auf Deutsch in einer Übersetzung von Rike Bolte.

Das Buch enthält außerdem das ebenfalls im Nachlass des Autors aufgefundene Kurzprosastück Der Leopard, übersetzt von Marie Gutsche und Franziska Hölscher.

Autorenportrait

Jacques Stéphen Alexis, geboren 1922 in Gonaïves, ist eine Legende der haitianischen Literatur. Nach seinem Medizinstudium bereiste er Europa und lebte eine Zeit in Kuba. Seinen Ruhm begründete der Roman Compère Général Soleil (1955, dt. General Sonne). Es folgten Les arbres musiciens (1957, dt. Die singenden Bäume) und L’espace d’un cillement (1959, dt. Die Mulattin). 1956 nahm er am ersten Kongress schwarzer Schriftsteller und Künstler an der Sorbonne teil und hielt dort einen wegweisenden Vortrag über den haitianischen „wunderwaren Realismus“ (réalisme merveilleux). 1960 unterzeichnete er in Moskau im Namen der haitianischen Kommunisten die „Erklärung der 81“. Im April 1961 wurde er beim Versuch einer Rückkehr aus dem Exil von den Schergen Duvaliers gefangen genommen, gefoltert und umgebracht.

 

Leseprobe

II ROT

Beim Glockenschlag reißen die Schlafenden automatenhaft die Augen auf. Es hat zum Wachwechsel geläutet. Lanor erhebt sich und nimmt den Posten des Kapitäns am Steuer ein. Der steht mit gerunzelter Stirn da und starrt das Wolkengebilde an. Im Osten färbt ein kräftiges Rot Wasser und Himmel blutig. Im Westen hat die dunkle Wolkenwand einen metallischen Glanz angenommen, der hier und da von goldenen Streifen durchzogen wird. Jetzt schlurft der Kapitän mit eingezogenen Schultern übers Deck, die Hände tief in den Hosentaschen. Trotz des aufdämmernden Morgens ist die Luft ausgesprochen schwer. Églantine hat sich nicht fortbewegt, liegt immer noch auf dem Rücken da. Das Pochen im Kopf ist schwächer geworden, hat einer dumpfen Schwere in den Augenhöhlen Platz gemacht. Seit einer Weile zieht ein unregelmäßiges Kribbeln durch die Finger und die eisigen Zehen und fällt – ein Trupp irregewordener Taranteln – über Unterarme, Arme, Waden und Schenkel her, um anschließend an den Wurzeln der Gliedmaßen Halt zu machen. Ein Schauder packt Églantine, bis alles so schnell abflaut, wie es gekommen ist. Gedanken- und traumlos fällt sie zurück in diese wehmütige Niedergeschlagenheit, die sie bereits seit dem vorherigen Abend kraftlos, gefühllos, gallertartig zu Boden zieht. Nach ein paar unendlich erscheinenden Minuten dringt ein Strom bitteren, limettensauren Speichels in ihren Mund, und alles beginnt von vorn: die Kälte, das Kribbeln, der Schauder.

Die Sonnengranate steigt nach und nach aus den Fluten und dann langsam in den nächtlichen Morgen auf. Das Licht ist noch nicht hervorgekrochen, inmitten der durchscheinenden Dunkelheit tritt bloß fluoreszierendes Blut aus dem undurchdringlichen, matten, über einer der Horizonthälften schwebenden Gestirn hervor. Die große Kugel besitzt äußerst deutliche Konturen; gerade einmal umgibt ein gestrichelter dunstiger Hof den Himmelskörper, der wie eine verzögert anspringende Neonlampe zu leuchten beginnt. Églantine lässt ihren trüben Blick über diese Dämmerung gleiten, sammelt Eindrücke, um ihre Gedanken wieder in den Griff zu bekommen. Die Dieu-Premier zieht, seitdem sie die Île de la Gonâve hinter sich gelassen hat, Richtung Nord-Nordost und bewegt sich nun fast direkt auf die Spitze des Winkels zu, den die sich irgendwo im Norden treffenden Schnittebenen bilden: der Vorhang aus ungeheuerlichen Wolken, die den Westen verriegeln, und die glatte Oberfläche der abgründigen, sich im Osten ausbreitenden Dämmerung. Der Wind hat sich so gut wie gelegt. Das Segelschiff wird über eine Art atmosphärischen, immer wieder aussetzenden Husten auf sein Ziel zugetrieben, kommt nur stoßartig voran. Anstatt aufzuklaren, nimmt der Osten eine schmuddelig-rote Tönung an, die sich ohne Unterlass schwarz einfärbt, die Sonne steigt darin strahlenlos auf, ohne Hof, wie bei einer vollständigen Sonnenfinsternis.

Der Supercargo hat sich zu Kapitän Samuel gesellt. Die beiden stehen nahe an der Reling, an Backbord und unterhalten sich mit gedämpfter Stimme. Célie Chéry steuert sie entschlossen an.

»Käpten Samuel? … Der Sturm, der da aufzieht, ist nicht ohne … Wäre es nicht besser, wir würden an die Küste zurückkehren und in einer kleinen Bucht das Ende des Unwetters abwarten? …«

Der Kapitän mustert seine Gesprächspartnerin nachlässig, dann wendet er sich erneut dem Supercargo zu, der ihm ein paar Worte ins Ohr flüstert.

»Käpten Samuel! Ich rede mit Ihnen! … Würden Sie mir bitte antworten?«

Célie Chéry erntet einen genervten Blick, bevor sich der Kapitän ganz abwendet. Also hält sie sich an den Supercargo:

»Andréo, du kriegst wohl auch den Mund nicht auf! Der Sturm kommt mit aller Wucht auf uns zu! Es ist Zeit, Schutz zu suchen … Kapitän Samuel …«

»Nun hör mir mal gut zu, Célie«, entgegnet der Kapitän. »Zuerst hast du darauf bestanden, dass wir auslaufen und die Sache durchziehen, egal was passiert. Und wir haben uns darauf eingelassen. Was beklagst du dich jetzt? Du hast das Schiff zwar gechartert, doch auf See habe ich dir nicht zu gehorchen! … Was weißt du schon vom Meer? Bist du nicht eine Frau? Na also! Verzieh dich in deine Ecke und bibber eine Runde! Und dass du mir nicht nochmal auf den Gedanken kommst, solche Forderungen zu stellen! …«

»Es war uns doch allen sonnenklar, was uns erwartet«, fügt der Supercargo hinzu. »Außerdem ist es längst zu spät, uns in Sicherheit zu bringen. Der Nordostwind zerrt mit aller Wucht an uns. Wenn wir eine Bucht ansteuern, zerschellen wir mit Sicherheit an den Klippen … Du bist genug auf dem Meer unterwegs gewesen, um das klarzuhaben. Schau nach, was an Steuerbord los ist, und dann geh schlafen. Du musst nichts weiter tun, als mit deiner Geschäftspartnerin in die Kajüte runterzugehen. Lass uns in Ruhe!«

Tatsächlich hat der Ausläufer aus Schatten und Dämmer, der sich eben noch im Norden gebildet hatte, nach und nach sein äußerstes Ende an ein wirres Magma verloren. Der Wolkenvorhang vollzieht einen Schwenk nach Osten, wo das bleiche Gestirn gegen eine alles einnehmende Dunkelheit ankämpft, die ohne Unterlass düstere Töne auf das glänzende Tuch der Morgenröte streicht. Alle nächtlichen Sonnen sind verloschen. Im finsteren Ruß der anrückenden Haufenwolken, den Rössern der Apokalypse, deren Gewieher man zu ahnen beginnt, versickert das gesamte morgendliche Rot und verendet; allein die Sonnenkugel flammt in der zurückgekehrten Nacht auf. Das Morgengrauen hat sich in einen bedrückenden Schirm verwandelt, der sich zu schließen beginnt. An Bord der Dieu-Premier unterdessen ist man klar zum Gefecht. Mit noch verschlafenem Blick ziehen die Seemänner die Taue ein und sammeln herumliegende Gegenstände ein, um sie unter dem vorderen Schiffsaufbau in Sicherheit zu bringen. Inmitten der karminfarbenen Dunkelheit starren sie die strahlenlose Sonne an, die über den finsteren Fluten prangt, aus denen hier und da ein paar tiefblaue Flugfische aufschnellen, von dem sich nähernden Kataklysmus wie angestochen. Es ist ein ganzer Schwarm Flugfische, der dem Segler entgegenkommt, ein Wurf kleiner, zartbeflügelter Tiere, die um die Wette aus den noch friedlichen Wellen hochschnellen, um weiter vorne wieder in blitzende Geysire einzutauchen. Seeküstenschwalben, Meeresschwalben, Schwalben mit schwarzem Gefieder, Schwalben mit dünnem, wendigem Hals und zerbrechlichem Schnabel kreisen verzweifelt um die Masten. An dem Luftballett beteiligen sich außerdem Schwarzkopfmöwen, Elfenbeinmöwen, blütenweiße Pelikane und selbst ein riesiger Malfini* zieht in weiter Höhe olympische Kreise. Durch die Wasser strömen Braunalgenbüsche, Quallen mit schleimigem, rötlich schimmerndem, durchscheinendem Schirm und langen, schillernden Glühfäden, der wogenden Haarmähne einer Ertrunkenen gleich, sprich, alle Schaumwesen, die die See ausspeit. Nun hat sich die schwarze Wand in einen Zylinder verwandelt, der sich zu drei Vierteln um die zu tanzen beginnende Dieu-Premier schließt.

»Segel reffen!«

Kapitän Samuel hat den beunruhigenden Befehl mit heiserer Stimme erteilt. Von jetzt an herrscht Krieg zwischen der Dieu-Premier und den Elementen, die inder Ferne sichtlich zu toben beginnen.

Pressestimmen

Unsere Bücher

Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch
Mehr zum Buch