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Kettly Mars

Die zwielichtige Stunde

Über Klassenverhältnisse und Sextourismus in Lateinamerika lässt sich unterschiedlich schreiben. Kettly Mars aus Haiti tut dies unsentimental, freimütig und ohne Vorurteile WOZ, Zürich

Inhalt

Vier Stunden im Leben von François Eric L’Hermitte, genannt Rico, Gigolo in Port-au-Prince. Einen Nachmittag lang hängt er seinen Gedanken und Erinnerungen nach, während er sich von einer durchfeierten Nacht erholt. Hinter seinem vordergründigen Zynismus werden immer wieder die Zwänge einer Gesellschaft sichtbar, „die einem Mann alles verzeiht (…), nur nicht seine Armut“. Ricos Gedanken kehren immer wieder in die vorangegangene Nacht zurück, in der eine unerwartete Begegnung seine Gewissheiten ins Wanken gebracht hat …

Autorenportrait

Kettly Mars, geboren 1958 gehört zu den bekanntesten Gegenwartsautorinnen Haitis. Sie erhielt eine klassische Bildung und arbeitete zunächst als Verwaltungsangestellte. Ab den 1990er Jahren wurde sie zunächst als Lyrikerin bekannt. Mit dem Roman Die zwielichtige Stunde (L’heure hybride) machte sie sich auch als Prosaautorin einen Namen. Ihre Werke wurden mit zahlreichen Preisen, darunter dem niederländischen Prinz-Claus-Preis, ausgezeichnet. Auf Deutsch erschienen bereits Fado, Wilde Zeiten, Vor dem Verdursten und Ich bin am Leben.

Leseprobe

Fünf Uhr fünfunddreißig. Langsam hebe ich die Augenlider. Ich achte immer darauf, meine Netzhäute nicht allzu abrupt dem Angriff des Lichts auszusetzen. Die Uhr auf der Wand gegenüber schaut mich mit ihrem großen, gleichmütigen Auge an. Es ist Zeit, in die Gänge zu kommen. Wie jeden Nachmittag um diese Stunde hat mich das Knattern des Transistors von Félix aus meiner Lethargie geholt. Seltsam, all diese Geräusche, diese Gerüche, diese Lichtnuancen, die über den Tag verteilt mein Leben regeln und mich mit der Außenwelt verbinden. Jede Stunde hat ihren Geräuschpegel, ihre Modulationen, ihre Lichtstärke. In meinem Zimmer landen tagsüber stoßweise Töne, rhythmisch pulsierende Klangfetzen, die mir besser als die Zeiger einer Uhr Aufschluss über die Zeit geben. Da ist der impulsive Gesang der Reifen auf dem Asphalt, das hektische Hupen der Taxis, das mit der Sonne zunehmende Stimmengewirr, das Rascheln der Blätter, der weiße Atem der Hitze, rosa der des erwachenden Begehrens. Manchmal erreicht mich auch unbestimmt gefärbtes Gemurmel oder in Nacht gehülltes Geflüster. Aber ich weiß nicht mehr, ob sich das vielleicht aus meiner Kindheit oder aus meinen schlaflosen Stunden herübergerettet hat.

 

Nur noch zwei Stündchen Ruhe, ehe ich mich in Bewegung setze. Es ist heute schrecklich heiß gewesen. Auf meinem lauwarmen Bett habe ich den Tag splitternackt mit geschlossenen Augen verbracht, eine Zigarette nach der anderen geraucht und an den geringsten Bewegungen gespart, um meinen Kater nicht zu verschlimmern. Ascheschlieren beschmutzen meine Laken. Die am Boden herumliegenden Stummel warten vergeblich darauf, weggefegt zu werden. Das nasse Handtuch über meiner Stirn hat auf den Kissenbezug getropft und einen großen dunklen Fleck gemalt, als wäre sämtliches Blut aus meinem Kopf ausgelaufen. Ich bin im Morgengrauen heimgekehrt. Ich muss wohl keinen schönen Anblick bieten. Von Woche zu Woche verlaufen die Donnerstagabende bei Patrice geradezu orgiastisch. Alkohol … Rauchschwaden … vermengte Leiber … verwirrte Sinne … Ich müsste mindestens eine Zeitlang meine Besuche bei Patrice und seiner Künstlerclique einstellen. Diese ganze schöne Welt ist bis auf die Knochen verdorben. Ich werde langsam kriminell … Ich will die gestrige Erfahrung nie wieder machen, niemals mehr. Mein Gott! … Ich hätte mich nie einer solchen Gewaltladung für fähig gehalten. Ich sträube mich gegen den bloßen Gedanken. Aufhören … aufhören … ja … aber … leichter gesagt als getan. Der Salon von Patrice ist das Jagdrevier der Stadt schlechthin, Wild ist reichlich vorhanden, und die Begegnungen sind dort oft sehr lukrativ. Gut … mal sehen … noch sieben Tage bis zum nächsten Donnerstag. Mir bleibt noch Zeit, mich zu entscheiden.

Jetzt kann ich besser durchatmen … Stundenlang habe ich auf die leichte Brise gewartet, die endlich durch mein Zimmerfenster hereinweht. Sie bringt mir mit ein wenig Kühle die stolpernden Noten der heißen Merengue, die Félix genießt. Wie um mich daran zu erinnern, dass der Moment umkippt. Der Tag den Kurs ändert. Ein anderes Leben einsetzt. Noch herrscht zwar helles Tageslicht, aber mein geübtes Auge nimmt bereits seinen Riss wahr. Wie bei einer Katze bessert sich mein Sehvermögen mit abnehmender Helligkeit. Tatsächlich fühle ich den nahenden Abend oft mehr, als ich ihn sehe. Dann erscheint mir der abgeschwächte Schatten der Gegenstände voller Verheißungen. Die Stunde hat ihren Höhepunkt erreicht und beginnt ihren Abstieg in die Nacht, von Sonne gesättigt. Diese Bruchstelle des Tages kenne ich gut. Bei jeder Jahreszeit weiß ich um sie, an den kurzen Dezembertagen wie an den langen Sonnentagen des Hochsommers, selbst wenn es regnet. Bei diesem Ruf der Nacht, den ich allein wahrnehme, werde ich allmählich wach. Wie durch Zauberhand schwinden meine Malaisen. Alle meine Bestandteile, die durch Alkohol, durchwachte Nächte und Gluthitze abgespalten waren, kehren an ihren Platz zurück. Ich sammle meine Krumen ein, regeneriere mich. Der Moment naht, an dem ich zu leben, durch die Alleen der Nacht zu wandern beginne. Nachts existiere ich. In einem Bereich, in dem die Grenzen verschwimmen, im Dämmerlicht, das Mangelhaftes mildert, Unvollkommenes übertüncht, Gestörtes verbirgt. Im düsteren Teil des Tages, im Einklang mit der Dunkelheit werde ich aktiv. Ich ertrinke in ihr und finde mich in ihr wieder. Ich liebe die Nacht, sie macht die Frauen schöner und heißblütiger. Ein Verbrechen wär’s, die Stunde zu verschlafen, in der die Sterne mir zublinzeln.

Pressestimmen

Altermondes, Elsie Haas

Mit diesem Roman demonstriert Kettly Mars (…) ihre vollständige Unabhängigkeit in der haitianischen Literaturszene.

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