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Gary Victor

Schweinezeiten

»Es heißt, ich sei Pessimist oder Nihilist, aber ich beschreibe nur die Realität.« Gary Victor
»Ein außergewöhnlicher Krimi von einem Autor, von dem man gerne mehr lesen würde.« Dominique Salcher, Münchner Merkur

Inhalt

Ein drückend heißer Sommer in Haiti. Inspektor Dieuswalwe Azémar hält sich für eine gescheiterte Existenz: Da er sich mit der allgemeinen Korruption nicht abfinden kann, wird er immer als Versager gelten, dem nur noch der Alkohol Trost spenden kann. Als jedoch das Leben seiner Tochter durch die Machenschaften einer Sekte in Gefahr gerät, findet er seine Reflexe als Elitepolizist wieder. Ein weiteres Mal zieht der Dirty Harry von Port-au-Prince mit seiner Beretta und viel Zuckerrohrschnaps in den Kampf gegen Verbrechen, Korruption und okkulte Mächte. Was verbirgt sich hinter der »Kirche vom Blut der Apostel«? Was hat der Traum seiner Tochter zu bedeute? Und was hat all das mit der seltsamen Verwandlung zu tun, die mit seinem ehemaligen Assistenten vor sich geht?

Ein Voodoo-Krimi mit all den Zutaten, die Inspektor Azémar in Haiti zu einer Kultfigur machen, je abgedrehter, desto realistischer.

Autorenportrait

Gary Victor, geboren 1958 in Port-au-Prince, Haiti, ursprünglich Agronom, gehört zu den meistgelesenen Schriftstellern seines Landes. Viele seiner Gestalten sind zu feststehenden Typen geworden. Außer Romanen, Erzählungen und Theaterstücken, für die er mit mehreren Preisen, darunter dem Prix du livre RFO und dem Prix littéraire des Caraïbes ausgezeichnet wurde, schreibt er auch Beiträge für Rundfunk und Fernsehen, die in Haiti regelmäßig für Aufregung sorgen. Sein schonungsloser Blick auf die Gesellschaft stellt ihn in die Tradition der Sozialromane des 19. Jahrhunderts und macht ihn zum subversivsten Gegenwartsautor Haitis.

Leseprobe

Die Sonne schüttete ihm ihre drückende Hitze wie Bleiperlen mitten auf den Schädel und zielte dabei genau auf die kahle Stelle. Er glaubte zu hören, wie ein Feuerregen über der verbrannten Savanne niederging. Die Schwefeldämpfe zogen den Saft aus der Vegetation, die wie verkohlt wirkte. Seine dunklen Brillengläser schützten ihn kaum vor der Strahlung. Er hatte Lust auf einen Schluck tranpe*, um den Durst zu lindern, der ihn umklammert hielt wie in einem Schraubstock. Die Flasche, die er aus der Tasche zog, war leer. Er musste einer Halluzination aufgesessen sein, er konnte unmöglich schon so viel getrunken haben. Es sei denn, er hatte jedes Zeitgefühl verloren, seit er seinen betagten Nissan, der nun das ehrwürdige Alter von 27 Jahren erreichte, am Rand der Landstraße geparkt hatte. Er warf die Flasche gegen einen Felsen; sie zerbrach, ohne dass das Klirren zu ihm drang.

»Ist es noch weit«, fragte er die Frau, die vor ihm ging.

»Es ist ganz nah«, antwortete sie.

[…]

Er erblickte die Hütte von fern im Hitzenebel und in den Schwefelausdünstungen. Sie stand inmitten von einer Art Geschwür aus Schlamm. Drei schmutzige, zerrissene Fahnen mit ausgewaschenen Farben, wie verkohlt von den Angriffen der Sonne, waren am Dach befestigt. Das Haus schien ein Feuer überstanden zu haben. Er wunderte sich, dass es bei dieser Hitze, die auf das Stroh und das Holz hinunterbrannte, nicht in Flammen aufging. Die Leute, die hier wohnten, mussten Mutanten sein, eine neue Art, die an die Lebensbedingungen an diesem Ort angepasst war. »Wir sind alle Mutanten«, dachte er. »Wären wir Menschen, dann hätten wir dieses Leben nicht akzeptiert.« Sie legten die letzten Meter auf einem zweifelhaften Pfad zwischen Schlammpfützen zurück, die die Gluthitze ausgetrocknet hatte. […]

»Was willst du«, fragte eine gehässige Stimme hinter der Tür.

»Ich bin wegen dem Kind zurückgekommen. Dem kleinen Mädchen.«

»Hast du das Geld mitgebracht?«

»Ich will mit Marasa sprechen«, sagte sie.

»Wer ist bei dir?«

»Mein Bruder«, log die junge Frau.

Man hörte, wie innen eine kurze Beratung abgehalten wurde, dann ging die Tür auf.

»Kommt rein«, sagte die Stimme.

Die junge Frau betrat die Hütte, ihr Begleiter folgte ihr. Es war so dunkel, dass die Neuankömmlinge den Hausherrn nur schwer ausmachen konnten. Der Mann nahm seine dunkle Brille ab, aber das Licht draußen war für die Sonnenfilter der Gläser zu stark gewesen. Er brauchte eine Weile, bis seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Der, der sie hereingeführt hatte, zeigte auf einen Mann, der ganz hinten im Raum saß. Dieser stand auf und kam auf sie zu. Er war mager wie eine Leiche, sicher von der Sonne mumifiziert. Seine haut war wie Holzkohle. Das kalkige Weiß seiner Augen legte eine beunruhigende Aura um sein Gesicht.

»Papa Marasa, ich bin zurückgekommen wie vereinbart«, sagte sie, indem sie sich zum Zeichen der Unterwerfung auf ein Knie niederließ.

»Hast du die 15 000 Gourde?«, fragte Papa Marasa.

Der Begleiter der jungen Frau bereute, der jungen Frau bereute, dass er unmäßig tranpe getrunken hatte. Die Hitze vertrug sich nie gut mit dem Alkohol. In diesem Zustand nahe an der Trunkenheit ließ seine Sehkraft um eine Stufe nach. Aber woher hätte er wissen sollen, dass seine Augen trotz Brille einem solchen Lichtsturm ausgesetzt sein und anschließend in dieses dunkle Universum eintauchen würden? »Ich will das Kind wieder mitnehmen«, flehte sie.

»Sie wird sterben« warnte Marasa trocken. »Sie hat ihre Seele nicht mehr. Du kannst die Seele nur zurückkaufen.«

»Jedenfalls muss sie bezahlen«, sagte mit quiekender Stimme jemand, den die Neuankömmlinge nicht bemerkt hatten. »Das Mädchen war acht Tage hier. Jetzt kostet es das Doppelte!«

[…]

»Ich habe das Geld nicht«, jammerte die Mutter. Bitte, lassen Sie mich mit meiner Tochter gehen.«

»Wenn du für das Kind nicht zahlen kannst, dann verschwinde!«, schrie Marasa. »Du verschwendest unsere Zeit. Und wir haben gedacht, du bist seriös. Hau ab!«

In diesem Moment war eine Kinderstimme zu hören:

»Mama … lass mich nicht hier … Ich habe Schmerzen.«

Die Mutter schob Marasa beiseite und stürzte zu der Stelle, an der die Stimme hinter dem Vorhang hervordrang. Sie zog ihn beiseite. Der Mann folgte ihr. Der Anblick des Mädchens, das er hübsch, pausbäckig und voll Leben gekannt hatte und das nun zum Skelett abgemagert und in mehrere schmutzige, verwaschene T-Shirts eingemummt in diesem Bett lag, traf ihn wie ein Schlag. Er war so angewidert, dass ein plötzlicher Brechreiz ihm den Magen zusammenzog.

»Doris!«, rief die Mutter, indem sie ihr Kind in die Arme schloss. »Wir heilen dich, ich verspreche es dir, wir heilen dich.«

»Sie will das Kind mitnehmen«, sagte der Mann mit vor unterdrücktem Zorn vibrierender Stimme.

»Das macht 30 000 Gourde. Aber sie wird sterben«, warnte Marasa erneut. »Wenn sie leben soll, dann zahlt die geforderte Summe. Sie ist verkauft. Verhandlungen um eine Seele sind keine einfache Sache.«

»Wir nehmen sie mit«, antwortete der Mann heftig, »und wir zahlen nichts.«

»Was glaubt ihr, wer ihr seid?«, blaffte die Frau mit dem bösartigen Blick.

Der Mann sah das Aufblitzen der Machete in der Hand des Gehilfen, der ihnen die Tür geöffnet und seitdem nichts gesagt hatte. Der erste Schuss ließ die Hütte erbeben. Die Wucht des Projektils schleuderte den Mann mit der Machete gegen die Wand aus Lehm und Stroh. Die Frau stand keifend auf. Das zweite Geschoss riss ihr einen Teil des Schädels weg. Marasa sperrte die Augen auf, sein weit geöffneter Mund ließ eine fast schwarze Zunge sehen.

»Nehmt sie mit«, sagte er eilig in einer Art Kläffen, das an einen Schluckauf erinnerte.

Die Kugel traf ihn in den Mund. Marasa schlug wie ein Ertrinkender um sich, während er zusammenbrach.

»Bist du verrückt?«, schrie die Mutter, die plötzlich aus ihrer Betäubung erwachte. »Bist du verrückt?«

Links neben ihm war im Dunkeln das Klirren eines zerbrechenden Gefäßes zu hören. Die zwei Flügel eines Fensters flogen mit einem Knall auf. Ein Wesen, halb Spinne, halb Mensch, sprang mit einer solchen Behändigkeit und Schnelligkeit nach draußen, dass er nicht sofort reagieren konnte. Er stürzte zum Fenster und sah das Ding im Zickzack auf ein etwa hundert Meter entferntes Kaktuswäldchen zurennen. Er feuerte, war aber nicht sicher, getroffen zu haben. Er fand seine Reflexe als Eliteschütze nicht wieder. Die Kreatur verschwand in dem Wäldchen. Er kehrte zu der jungen Frau zurück, die mit den Händen auf dem Kopf stöhnend dasaß und alle Heiligen des katholischen Kalenders um Beistand anrief.

»Nimm deine Tochter«, befahl er mit ausdrucksloser Stimme und steckte die rauchende Zweiundzwanziger Automatik wieder an den Gürtel.

Die Stimme ihres Begleiters riss sie aus ihrer Trance. Sie berührte den Körper des Kindes, es glühte vor Fieber.
»Sie wird sterben«, schrie sie hysterisch. »Wenn ich gewusst hätte, dass du vorhast, sie umzubringen, hätte ich dich nicht mitgenommen. Dann hätte ich mich nicht an dich gewandt. Nur weil du deine Tochter Mireya den Weißen gegeben hast, musst du mir nicht meine nehmen.«

»Hör auf, Unsinn zu reden«, sagte er ärgerlich. »Deine Tochter wird leben.«

»Ich hoffe es für dich, sonst wirst du für ihren Tod büßen.«

»Hör auf mit dem Geschwätz. Wir sind hier in Gefahr.

Sei hob das Mädchen hoch und legte es sich auf die Schultern. Sie verließen die Hütte. Im Umkreis war niemand zu sehen. Die Hütte hatte den Lärm der Detonationen verschluckt. Der Feuerregen ging weiter auf die Savanne nieder. Er setzt die dunkle Brille wieder auf. Er spürte, wie ihnen aus dem Wäldchen der hasserfüllte Blick der Kreatur folgte, die sich dort verkrochen hatte.

»Was war das für ein Ding, das da aus dem Fenster gesprungen ist?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»Ich weiß es nicht. Aber hab keine Angst. Es traut sich nicht an uns heran.«

»Du hast mich belogen, Dieuswalwe«, sagte sie, während sie unter Tränen zusammenbrach. »Du hattest das Geld nicht … Stimmt’s?«

Er ignorierte die Frage.

»Du kannst das Kind bei dieser Hitze nicht tragen. Gib sie mir.«

»Nein … das ist meine Tochter, ich trage sie. Bei der heiligen Jungfrau Maria, warum hast du das getan, Dieuswalwe Azémar? Warum? Du bist nicht mehr du selbst, seit du deine Tochter weggegeben hast.«

Er antwortete nicht. Sie hätte ihn nicht verstanden, wenn er ihr gesagt hätte, dass er einen Brechreiz gehabt hatte. Er war niemals fähig gewesen zu erbrechen. Nach der Unterzeichnung der Urkunde, mit der er das Leben Mireyas rechtsgültig der Kirche vom Blut der Apostel anvertraute, hatte er geglaubt, dass er sich endlich übergeben würde. Tagelang hatte er vergeblich gehofft, endlich diese Übelkeit loszuwerden. Es war physisch unmöglich. Heute hatte er die Leute in der Hütte nicht ertragen können. Diese Hütte war das Land im Kleinformat. Und er hatte geschossen. Das war eine Art, sich zu übergeben.

Pressestimmen

Die Zeit, Tobias Gohlis

Die grellen Farben der Verzweiflung, eine knochenmarkzerstörende Bitterkeit und das schrille Kichern des Deliriums sind die Zutaten, aus denen Gary Victor dieses 130-Seiten-Konzentrat großartiger Kriminalliteratur ausgekocht hat. Haiti überlebt!

Auszug aus: Die Zeit, Tobias Gohlis, 6. Februar 2014

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