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Louis-Philippe Dalembert

Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi

»In wohl keiner anderen Region werden so viele faszinierende Romane über die verlorene Welt der Kindheit geschrieben wie in der (...) Karibik. Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi ist einer der schönsten.« Gert Eisenbürger, ila

Inhalt

Port aux Crasses, Hauptstadt des Karibikstaates Salbounda. Der bevorzugte Aufenthalt des kleinen Jungen ist ein Autowrack, in dessen Rückspiegel er die bunte Fauna des Hafenviertels beobachten kann. Aus ihr ragt Faustin heraus, der Schuhputzer, der sich nachts in den gleichnamigen Kaiser von Salbounda verwandelt.

Dalemberts erster Roman bietet farbige Charaktere und eine einfühlsame Auseinandersetzung mit den Themen Kindheit und Heimat.

Autorenportrait

Louis-Philippe Dalembert, Lyriker, Romanautor, Literaturwissenschaftler und Journalist, wurde 1962 in Port-au-Prince geboren, hat die ersten 25 Jahre seines Lebens in Haiti verbracht, und durchstreift seither nach eigener Aussage als Vagabund die Welt. (Nord- und Südamerika, Karibik, Afrika, Europa, den Nahen und Mittleren Osten). Er lebt heute zwischen Paris, Rom und Port-au-Prince. Seine Bücher, die bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurden, liegen nun endlich auch auf Deutsch vor.

Leseprobe

Der Mann wagte nicht, den Hof des ehemaligen Hauses der Familie zu betreten. Von außen erschien es ihm lächerlich klein, während es in seinen Erinnerungen zu einer Zitadelle wurde. Ebenso unbedeutend die Veranda, die seinen zerbrechlichen Armen übermenschliche Anstrengungen abverlangt hatte, um auch nur auf die einen Meter fünfzig hohe Balustrade zu klettern. Und das war noch nicht alles. Eigentlich kam sie ihm wie eine ordinäre Galerie einer dieser zusammengeschusterten Bauten der dritten Welt vor. Aber, so dachte der Mann, um sich zu trösten, vielleicht bewahrte der Hof ja das Echo seiner Spiele, der Fußballpartien zu viert, der wilden Ringkämpfe, die darauf folgten und der Versöhnungsversuche voll Stolz und Naivität. Er war auf dem Weg der Erinnerung die zweite Enttäuschung nach der tiefen Betrübnis, die er während seines Spazierganges in den Straßen von Port-au-Crasses, seiner Geburtsstadt, verspürt hatte. Ein Ballungsgebiet mit dem Rücken zur Wand, eingekeilt zwischen den gescheiterten Träumen der einen und dem gleichgültigen Hochmut der anderen. So wie ganz Salbounda, das immer weiter abdriftete und dessen Abstand zu den anderen Karibikinseln immer größer wurde. In der Veranda und dem alten Gebäude setzte sich der Niedergang des Landes Salbounda fort, oder, besser gesagt, er verdichtete sich in ihnen.

In der Umgebung dieses Hauses hatte der Mann Faustin kennengelernt, den berühmten Schuhputzer vom Meeresufer, der seinem Leben und seiner Wahrnehmung der Welt den unauslöschlichen Stempel der wahren Begegnungen aufdrücken sollte. Seitdem hatte sich die Kindheit hinter ihm geschlossen, wenn auch nicht ganz so abrupt wie eine Flugzeugtür bei der Abreise des ewigen Exilanten, zu dem er geworden war … Es gab nicht einen Baum mehr im Viertel: eine regelrechte Wüste. Wie aus dem Nichts entstanden. Die Kirche, die auf ihrem Tuffsteinhügel den Hafen überragt hatte, war einem Brand zum Opfer gefallen. In einer Dezembernacht war sie in Rauch aufgegangen. Der Vorfall hatte großes Aufsehen erregt, sogar im Ausland war davon die Rede gewesen. Andere Katastrophen, natürliche und politische, waren hinzugekommen. Regelmäßig und ausreichend oft, damit der Mann ein Unbehagen verspürte. Das seltsame Gefühl, geträumt zu haben. Schlimmer noch, eine andere Person zu sein, als die, die er zu sein geglaubt hatte … Alle Leute, die er kannte, waren aus dem Verkehr. Seine Großmutter war ebenfalls gegangen, ohne ihm die Zeit zu lassen, sie nach so vielen Jahren der Trennung wiederzusehen oder sie ein letztes Mal zu küssen. Die Menschen, die ihm in seinem ersten Leben nahegestanden hatten, waren über die ganze Erde verstreut. Und wenn sie einmal schrieben, dann in neuen Sprachen, denen, lange bevor sie die nunmehr weit entfernten Wurzeln erreichten, der Atem ausging. Mit heiserer Stimme, die stärker war als die Lächerlichkeit der Situation, zitierte er Verse in einer den Leuten im Viertel sicherlich unbekannten Sprache, die die Spuren seines endlosen Umherirrens trugen: »Sono partiti tutti. / Hanno spento la luce, / Chiuso la porta, e tutti / (Tutti) se ne sono andati / Uno dopo l’altro.« Sie waren alle gegangen. Anderswohin oder ins Jenseits. Ohne dass irgendein Wind oder der mythische Schmetterling, der über die Vorstellungswelt der Salbounder herrscht, ihr Echo zu ihm gebracht hätte. Sie waren alle gegangen. Es blieb freilich wie eine sanfte Migräne das hartnäckige Bild Faustins und seiner Kaiserwahnideen. Das einzige, das ihm eigentlich etwas bedeutete. Das einzige, das dieser Rückkehr möglicherweise einen Sinn verleihen konnte.

Trotz der Zweifel, die ihn befielen, lauerte der Mann tagelang und unermüdlich in dem Viertel, in dem sich seine frühe Kindheit abgespielt hatte, auf den Schuhputzer. Die Fragen, die er sich bei seinen Wanderungen unaufhörlich stellte, tauchten voll Tücke auf, tanzten in seinem Kopf wie Geister, die sich unerwartet eingestellt haben. Wer vermag zu sagen, warum man umkehrt? Warum lässt man das Leben nicht dahinströmen wie den Fluss, der in seinem Bett auch nicht zurückfließt? Woher kommt unser Bedürfnis, koste es was es wolle, die Vergangenheit auferstehen zu lassen, ihre Seele nicht in Frieden einschlafen zu lassen? An Erklärungen mangelt es nie, er fand immer Dutzende davon, aber die Wahrheit entgeht den Mikroben, die wir sind, immer. Der Mann lächelte bei dieser sentenziösen Bemerkung. Dieser gelehrte, endgültige Ton erinnerte ihn an die Straßenphilosophen des Hafenviertels, die immer so wirkten, als wüssten sie mehr, als sie sagten, und die eine gewisse Verachtung für ihresgleichen zur Schau trugen, um ihren eigenen Wert zu steigern. Es fehlte nur noch das Publikum aus Gaffern, ewigen Arbeitslosen und Nichtsnutzen. Sein Problem würde es jedenfalls nicht lösen: Er hatte es nicht verstanden, die Brücken hinter sich abzubrechen.
Ein Vierteljahrhundert nach seinem eigenen Weggang aus dem Hafenviertel und dann aus Salbounda wäre es ein Wunder gewesen, wenn er Faustin noch am selben Platz sitzend über seine Schuhputzerkiste gebeugt vorgefunden hätte. Wie jene Leichen, die man Jahrzehnte später erstarrt im Eis findet. Als ob die Zeit stehengeblieben wäre und dieser hier auf ihn gewartet hätte. Der Mann musste es indessen einsehen: Der Schuhputzer hatte sich spurlos verflüchtigt. Davongeflogen aus der Hahnenkampfarena. Wie ein schlechter Hahn, der es leid war, die Schnabel- und Sporenhiebe seines Gegners abzubekommen. Hatte Faustin solche Angst vor dem Leben gehabt, dass er vor ihm geflohen war?

Niemand wusste, wohin er gegangen war, man hatte noch nie auch nur von ihm gehört. »Faustin wie?«, fragte ihn ein Schuhputzer, der gute fünfzig Jahre alt sein musste. »Faustin …«: Der Mann zögerte, bevor er hinzufügte »der Erste«, aber »der Erste« verlor sich im Knattern eines schon halb kaputten Motorrades. »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht«, setzte er wieder an, als er sich bewusst wurde, dass er den Familiennamen des Mannes, der seine Kindheit geprägt hatte, nicht kannte. Sein Gesprächspartner schien in seinem Gedächtnis nachzugraben: »Vor ungefähr fünfzehn Jahren habe ich einen Faustin gekannt, aber er hatte nicht denselben Beruf wie ich. Heute könnte ich Ihnen nicht sagen, wo er sein Boot festgemacht hat. Wissen Sie, hier kommen und gehen die Leute. Sie kommen ohne Vorwarnung an, niemand fragt sie, was sie zu verkaufen haben, sie bleiben eine Weile und eines schönen Tages verschwinden sie.« Der Mann machte ein konsterniertes Gesicht, worauf ihn der Schuhputzer ohne allzu viel Überzeugung auf eine andere Spur setzte: »Vielleicht sollten Sie in Trou-Coucou und beim alten Mesilòm nachfragen. Er müsste wissen, wo der Faustin ist, von dem ich Ihnen erzählt habe, er war sein Traupate.«

Die Dämmerung brach lärmend über Salbounda herein, als der Mann in einen alten Jeep stieg und Richtung Yaguana davonfuhr. Der Wagen, der noch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu stammen schien, fuhr eher schlecht als recht. Das Stoffverdeck fehlte, so dass er ideal für die sommerliche Hitze des Stadtzentrums war, wenn man nicht gerade über ein Coupé mit Klimaanlage verfügte. Aber der Mann hatte lieber diese Klapperkiste von einem Mechaniker der Landungsbrücke gemietet, als sich an eine der oftmals nur von Touristen benutzten Autovermietungen zu wenden. Nach zwei Stunden Stau, ohrenbetäubendem Hupen, Beschimpfungen mit anderen Fahrern und Vollbremsungen, von denen ein Herzkranker in der Reanimation landen konnte, kam er schließlich vom Boulevard du Père-Fondateur-de-la-Patrie herunter. Von da an musste er der Ausfallstraße am Meer entlang folgen, welches nach und nach aus dem Blickfeld verschwand, je mehr man sich von Port-aux-Crasses entfernte.

Die Landschaft zog rückwärts vorbei. Der Fahrtwind des Jeeps peitschte ihm leicht über das Gesicht. Es gab keinerlei Möglichkeit, die zurückgelegte Entfernung zu berechnen: Der Kilometerzähler funktionierte nicht, der Tachometer ebenfalls nicht, und bislang hatte der Mann weder Kilometersteine noch Straßenschilder gesehen. Und die alte Karre ächzte, aber schluckte immerhin die Kilometer. Dass er keinen Weggefährten oder auch nur ein simples Autoradio hatte, machte sich bald bemerkbar, zumal nur wenige Autos diese Strecke fuhren. Aber die Einsamkeit war notwendig, um diese Reise der Erinnerung durchzuführen. Im Fahren sah der Mann zu, wie seine linke Hand über das Lenkrad strich, berührte mit der rechten leicht den Schalthebel, spürte die Berührung seines Fußes mit dem Gaspedal. Als er sich dieser doch mechanischen Gesten bewusst wurde, brach er rundweg in Gelächter aus. Er drückte sich tief in den Sitz und streckte die Arme; sein rechter Fuß erreichte den löchrigen Boden in dem Moment, in dem er begann, ein Lied vor sich hin zu pfeifen, das er einmal gelernt hatte, er wusste nicht mehr wann und wo.

Pressestimmen

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Hans Christoph Buch

Aus anderem Holz geschnitzt ist der Roman Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi von Louis-Philippe Dalembert, der Haiti in jungen Jahren verließ und als nomadisierender Schriftsteller in Paris ebenso wie in Rom und Tel Aviv zu Hause ist. Die im Roman geschilderte Rückkehr aus dem Exil wird zur Suche nach der verlorenen Kindheit auf den Spuren eines väterlichen Freunds, der von Beruf Schuhputzer war und sich Faustin I. nannte – in Anlehnung an den gleichnamigen Kaiser Haitis um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. […] Der soziale Abstieg vom Imperator zum Clochard drückt den Niedergang Haitis, das im Roman Salbounda (Dreckloch) heißt, von der Perle der Antillen zum Hinterhof der Karibik aus. Die Ironie liegt darin, dass der frühere Kaiser nach seiner Rückkehr aus dem Exil im Hafenviertel von Port-au-Prince verschüttging, wo sein Wiedergänger als Schuhputzer arbeitet und die Erinnerung an Haitis glorreiche Vergangenheit mit Alkohol betäubt. 

Die Devise von Faustin I., »Bajonette sind aus Eisen, Verfassungen aus Papier«, hatte auch für dessen diktatorisch regierende Nachfolger Gültigkeit, insbesondere für »Papa Doc« Duvalier, im Roman »Der Ehrenwerte« genannt […]. Schon damals schien es, als sei der Tiefpunkt erreicht, doch erst nach dem Sturz der Diktatur ging das Land den Bach hinunter, buchstäblich und nicht im übertragenen Sinn: […]. Haiti rangiert am unteren Ende jedweder Statistik, wie der Autor ohne erhobenen Zeigefinger und ohne selbstgerechte Empörung konstatiert, in einer poetischen Prosa, die dem großen Gedicht von Aimé Césaire Cahier d’un retour au pays natal näher steht als der Recherche von Proust: »Sie hatten die letzte Kurve ihres Menschenweges genommen. Sie mussten das Licht nicht löschen, denn es gab keins. Vielleicht hatte es in ihrem Leben niemals eins gegeben. Sie mussten auch die Tür nicht schließen, es gab nichts zu stehlen  in diesen Baracken, die über keine Tür verfügten. Sie waren einer nach dem anderen gegangen. Ohne eine Adresse oder eine Nachricht zu hinterlassen …«

Auszug aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Hans Christoph Buch, 4. Februar 2009

ila, Gert Eisenbürger

In Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi, dem 1996 im französischen Original erschienenen ersten Roman Dalemberts, beschreibt der im Ausland lebende Ich-Erzähler einen Besuch in Salbounda (Haiti) auf den Spuren seiner Kindheit. Er hat keine Angehörigen mehr in dem Land, seine Eltern starben, als er noch ein Säugling war, die Großmutter, bei der er aufwuchs, lebt nicht mehr. So hofft er, wenigstens den Schuhputzer Faustin, der eine Art Ersatzvater für ihn war, wiederzufinden. Doch in der Straße im Hafenviertel von Port-aux-Crasses (Port-au-Prince – »crasse« bedeutet Dreck), in der er seine frühe Kindheit verbrachte, trifft er keine bekannten Gesichter, und niemand der aktuell dort Lebenden kann sich an einen Schuhputzer namens Faustin erinnern. […] Er beschließt, die Suche nach seinen Wurzeln aufzugeben und die Tage bis zu seinem Rückflug in seinem Hotelzimmer zu verbringen. Und dort findet er in seinen Träumen und Erinnerungen, was er auf der Straße vergeblich gesucht hat, seine verlorene Kindheit. Er denkt zurück an seine ebenso resolute wie großmütige Großmutter mit dem Spitznamen Pont-d’Avignon und all die anderen, die die Straße am Tage und vor allem nach Einbruch der Dunkelheit bevölkerten: ambulante Händler/innen, großmäulige Schuhputzer, obdachlose Tagelöhner/innen, Trunkenbolde. Sie bildeten den Mikrokosmos seiner Kindheit, bestimmten seine Sicht der Welt. Auch Faustin kehrt in der Phantasie zurück, der Erzähler beginnt dessen Biographie zu imaginieren – wie er als Jungvermählter aus seinem Dorf in die Stadt kam, dort verzweifelt versuchte, Fuß zu fassen, wie seine schwangere Frau ins Dorf zurückkehrte, er aber aus Scham in der Stadt blieb, schließlich als versoffener Schuhputzer im Hafenviertel strandete und weiter davon träumte, es doch noch zu schaffen und seine Frau und Tochter in die Stadt zu holen. 
Auch wenn er die Welt mit den großen staunenden Augen des kleinen Jungen erzählt, für den die Typen aus dem Hafenviertel keine verelendeten Obdachlosen waren, sondern die Helden seiner Wirklichkeit, hat die Darstellung nichts Idyllisches. Gewalt ist allgegenwärtig, die Repression des Duvalier-Regimes entgeht auch dem Kind nicht, die Erschießung von Aufständischen, bei der selbst die Grundschüler/innen der Hauptstadt mit ihren Lehrer/innen erscheinen müssen, wird zu einem traumatischen Erlebnis. Aber trotz allem erinnert sich der Erzähler mit großer Wehmut an seine ersten Lebensjahre in Port-aux-Crasses und vermittelt dies auch den Leser/innen. In wohl keiner anderen Region werden so viele faszinierende Romane über die verlorene Welt der Kindheit geschrieben wie in der englisch- und französischsprachigen Karibik. Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi ist einer der schönsten.

Auszug aus: ila, Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika e. V., Ausgabe 321, Gert Eisenbürger, Dezember 2008 / Januar 2009

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