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Gary Victor

Der magische Pfad

Stürzen Sie sich mit Haut und Haaren in diesen [...], so kann ich wohl sagen, bezaubernden Roman. Jacqueline Pétroz, France Inter

Inhalt

Persée Persifal, einer der wenigen Gerechten im Land, wird von einem korrupten Politiker vergiftet und droht, zum Zombie gemacht zu werden. Entschlossen, ihn zurückzuholen, begibt sein Freund Sonson Pipirit sich auf den Pfad, auf dem die Untoten ihrer Bestimmung zugeführt werden. In einer Nacht durchquert er zwei Jahrhunderte haitianischer Geschichte, begegnet Geistern und Dämonen, Helden und Schurken, besteht lebensgefährliche Abenteuer und hinterlässt bei sterblichen und unsterblichen Frauen immer wieder nachhaltigen Eindruck …

Eine wilde Phantasmagorie in der Tradition des pikarischen Romans, in der Komik und Tragik, die diesseitige und die jenseitige Welt ineinander übergehen. Realistische Sozialkritik trifft auf die mythologische Tradition Haitis. Ein Buch, das man ohne Atempause in einem Zug durchliest.

Autorenportrait

Gary Victor, geboren 1958 in Port-au-Prince, studierter Agronom, gehört zu den populärsten haitianischen Gegenwartsautoren. Im deutschsprachigen Raum wurde er vor allem durch seine Kriminalromane um Inspektor Dieuswalwe Azémar bekannt. Seine drastischen Schilderungen gesellschaftlicher Missstände stellen ihn in die Tradition der Sozialromane des 19. Jahrhunderts und machen ihn zu einem der subversivsten zeitgenössischen Schriftsteller Haitis. Gary Victor wurde mit mehreren Preisen, darunter dem Prix RFO, ausgezeichnet. Er war mehrfach auf der Krimibestenliste (DIE ZEIT, später DLF/F.A.S.) sowie auf der Litprom-Bestenliste Weltempfänger platziert.

Leseprobe

Der Leichenzug kommt einen steinigen Pfad herunter. Die Tanzschritte, die die Männer und Frauen an der Spitze andeuten, werden schwer von der Stille. Vier Männer tragen auf dem Kopf einen Sarg. Sie passen auf, dass sie nicht das Gleichgewicht verlieren. Der Anführer der Truppe, ein hochgewachsener, magerer Kerl mit nacktem, narbenübersätem Oberkörper, bläst in ein Lambigehäuse*. Ein heiserer, schauriger Ton hallt durch die Ebene, aus der das Tageslicht weicht; er bringt das erste Zirpen der Heuschrecken zum Verstummen und verjagt den Passat, der sich an diesem Nachmittag ins Landesinnere gewagt hat. Die im Rhythmus einer Trommel singenden und weinenden Frauen täuschen tiefen Schmerz vor. Die Bauern wussten, dass der Leichenzug hier vorbeikommen würde, und sind aus der Ebene geflohen. Vor dem Meereswind, der wieder an Selbstsicherheit gewinnt, neigen sich die zu dieser Jahreszeit wachsenden Gräser einmütig nach Osten. Die Sargträger geben den Schritt vor. Je nach dem Tempo der Klageweiber machen sie einige Tanzschritte rückwärts, wobei der Sarg fest auf ihren Schultern ruht und ihre freien Hände den Takt schlagen, bevor sie wieder Boden gewinnen und rasch vorwärtsschreiten, als würden sie verfolgt. Der Mann an der Spitze der erstaunlichen Prozession geht in Sprüngen und gestattet sich in regelmäßigen Abständen so geschickte Kapriolen, dass man meinen könnte, er besitze Kräfte, wie man sie denen zuschreibt, die die Nacht zu ihrem Reich machen. Mit seinem hohen Wuchs überragt er seine Gefährten, was ihm zusätzliche Autorität verleiht. Er ermutigt sie mit Gebärden und Worten, wenn er nicht mit einem roten Taschentuch Geister und Dämonen aus dem Weg scheucht, die er als Einziger sieht. Der palmenbeschattete Weg macht eine Biegung, und die Friedhofsmauer erscheint vor ihnen. Der Anführer geht rückwärts darauf zu und feuert die mit verstärktem Eifer singende und tanzende Truppe gestenreich an. Die Schluchzer der Frauen schwingen sich auf den Passatwind, damit er ihre Botschaft des Schmerzes und der Not auf seinem Rücken in Agwes** geheimes Reich trage. Die Männer lassen den Sarg die vier Himmelsrichtungen grüßen, dann geht die Truppe weiter bis zu einem eisernen, mit einer rostigen Kette gesicherten Gatter. Der Anführer setzt eine Pfeife an den Mund und bläst dreimal gellend hinein. Der Zug steht still. Die Sargträger lösen sich aus der Gruppe und nähern sich dem Eingang bis auf zehn Meter, um ihre makabre Fracht auf dem Boden abzustellen. Anschließend postieren sie sich neben ihrem Anführer, der nun in der unbeweglichen Haltung einer Wächterstatue verharrt. Im angrenzenden Land ist nichts mehr zu hören außer der fernen Klage, mit der die Wogen des Ozeans sich an den schützenden Korallenriffen vor der Bucht brechen.

* Lambi: Bezeichnung für die große Fechterschnecke, deren Gehäuse als Signalhorn benutzt wird

** Voodoogott des Meeres.

Etwas erscheint am Gatter. Ein unförmiger, im Zwielicht der Abenddämmerung unmöglich zu beschreibender Schatten. Geschickte Hände öffnen das Tor. Die Gitter knarren. Die weniger Mutigen aus der Truppe weichen zurück. Aus dem Friedhof tritt ein Zwerg heraus und geht auf den Sarg zu. Begierig nimmt er den Deckel ab. Er stößt einen heiseren Schrei aus wie ein Gewichtheber. Im Handumdrehen liegt die Leiche auf der Schulter des Zwergs, der mit schweren Schritten wieder auf den Friedhofseingang zugeht. Auf halbem Wege bleibt er unschlüssig stehen, als hätte er einen wesentlichen Teil des Rituals ausgelassen. Unter den angstvollen Blicken der Übrigen kramt er mit einer Hand in seinen zerlumpten Kleidern. Er wirft eine Handvoll Sesam in Richtung der Männer und Frauen, die nur darauf gewartet haben. Während die Meute sich auf die Körner stürzt, betritt der Zwerg den Friedhof; ein unsichtbarer Wärter schließt das Gitter hinter ihm. In diesem Moment ist das Motorengeräusch eines davonfahrenden Jeeps zu hören. Die ganze Nacht über trug der Wind die Schreie und das Geheul der Männer und Frauen mit sich, die sich auf Leben und Tod um die Körner schlugen.

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