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Ralph Ludwig (Herausgeber)

Irrschweifen und Lachen. L’errance et le rire

Inhalt

L’errance et le rire – Irrschweifen und Lachen: Die Kultur der Antillen ist seit ihren Anfängen, seit den Überfahrten der aus Afrika verschleppten Sklaven im Schiffsbauch,  von der ungewissen, ungerichteten Bewegung im Raum geprägt, und das Lachen war von Beginn an Überlebensstrategie und Ausdruck des Widerstands. Heute meint errance auch das Leben der aus vielfältigen Gründen auf verschiedene Kontinente verstreuten Antillanerinnen und Antillaner. Schallt dabei das Lachen weiter, wie ist es um die antillanische Identität bestellt? Bedeuteten und bedeuten Irrschweifen und Lachen für Männer und Frauen dasselbe? Wie haben sich die Konzepte im Laufe der Zeit gewandelt? 15 Autorinnen und Autoren stellen sich in fiktionalen Texten und Essays diesen Fragen.

Die Anthologie, deren Original 2022 im renommierten französischen Verlag Gallimard erschien, umfasst Beiträge von Mélissa Béralus (Haiti), Mérine Céco (Martinique), Raphaël Confiant (Martinique), Louis-Philippe Dalembert (Haiti), Jean D’Amérique (Haiti), Miguel Duplan (Martinique), Frankito (Guadeloupe), Gaël Octavia (Martinique), Néhémy Pierre-Dahomey (Haiti), Gisèle Pineau (Guadeloupe), Hector Poullet (Guadeloupe), Christian Séranot (Martinique/Guyana), Lyonel Trouillot (Haiti) und Gary Victor (Haiti). Mehrere dieser Autorinnen und Autoren wurden für diese Ausgabe erstmals ins Deutsche übersetzt. Ein Blick von außen – Kaouther Adimi aus Algerien – rundet im Nachwort das Gesamtbild ab. Zusammengestellt und mit einer ausführlichen Einleitung versehen wurde die Sammlung von Ralph Ludwig, bis 2023 Professor für Romanistik an der Universität Halle, einem der besten Kenner der antillanischen Kultur und Literatur im deutschsprachigen Raum.

Leseprobe

Gaël Octavia

Weil wir Lachen sind

Aus dem Französischen von Cornelius Wüllenkemper

 

Wir sind Lachen, heißt es. Wir lachen, also sind wir. Ich kannte einen Mann, der nichts mit uns zu tun hatte und der uns ausgewählt hatte, uns als das Lachen, das wir sind. Er war ein Kind der Landung der Alliierten. Ein Sohn, der aus der Liebe zwischen einer hübschen Normannin und einem GI mit einem Helm aus krausen Haaren hervorgegangen ist. Verstohlene Liebschaften: ein Held, ein Blick, eine freudenreiche Umarmung hinter den Sanddünen. Und neun Monate später ein Baby, dessen Haut an eine gut gebackene Tarte Tatin erinnert. Dieser Mann. Kind der Dünen, Kind eines Seitensprungs, Kind der Sünde und der Scham seiner Mutter. Oh, Seitensprung ist ein großes Wort. Es war Krieg, der Ehemann war tot. Aber trotzdem, trotzdem … Eine frischgebackene Witwe, die sich hinter den Dünen auf den Rücken legen lässt! Und dann noch ein karamellfarbenes Baby!

Als Verkörperung eines Fehltritts hatte dieser Mann sein Leben lang das Lachen gesucht. In der Abenddämmerung hatte er es gefunden. Uns.

»Ich war im Schwimmbad«, hatte er mir erzählt. »Alles völlig normal, bis sie erschienen.«

Sie. Wir. Das Lachen.

Sie waren drei. Sie lachten. Die Leute schwammen. Sie lachten. Sie lachten zwischen zwei Bahnen, vielleicht auch mittendrin. Der eine sagte etwas, irgendetwas, und alle drei brachen in Lachen aus.

Der Mann war geradewegs auf sie zugeschwommen.

»Ich wollte wissen, wer sie waren.«

Sie. Wir.

Kurz darauf nahm der Mann, der aus den liegenden Schatten hinter den Dünen hervorgegangen war, das erste Flugzeug, gab seine Arbeit auf, sein Haus und sein Leben. Richtung: Lachen. Richtung: wir. Nach einigen Jahren bei uns hatte er sich von dieser Überzeugung nicht gelöst.

»Ein Lachen aus vollem Halse, das ist es im Grunde, was ihr seid.«

Diese mächtige Überzeugung flößte Respekt ein. Ich hatte nicht das Bedürfnis zu widersprechen. Ich habe vielmehr versucht zu verstehen, inwiefern und warum sie für die Wahrheit stehen konnte.

Wir lachen, in Ordnung. Seit wann lachen wir? Lachten wir beispielsweise auf der Plantage? Ist das Lachen mit uns auf die Welt gekommen, in diesem Raum, der uns hervorbrachte, diesem Raum, in dem wir, ob man will oder nicht, begannen zu existieren?

Auf dem Schiff? Nein. Kein Lachen möglich. Davon bin ich überzeugt. Auf dem Schiff gab es nur Schmerzen. Der zerschundenste Teil unserer selbst. Ein Herausreißen – oh Muttererde, oh Licht, oh Musik, oh Sprache, oh Seinsform, in der man über den eigenen Körper verfügt. Ein Herausreißen lacht nicht. Es ist eine nässende Wunde, ein lahmes Glied, eine erstickende Lunge, ein Schrecken, eine unendliche Hoffnungslosigkeit. Lachen kennt sie noch nicht. Auf dem Schiff waren wir noch nicht wir. Und sowieso lacht man nicht, wenn man auf dem Weg ist, ich betone, man lacht nicht angesichts der Unsicherheit, ob man Land sieht, die Ziellinie.

Natürlich war der Horizont tragisch, aber als unsere Fußsohlen diese Tragödie einmal berührt, unsere Geburten sie mit Blut befleckt und unsere Nachgeburten, die zu Boden fielen und dann unter einem Baum verscharrt wurden, sie genährt hatten, da lernten wir, sie zu bewohnen. Die Plantage1 also. Wir mussten akzeptieren, dass dies von nun an der Ort war. Dort, wo das Lachen erschallen würde.

Plantage. Willkür. Arbeit. Zwangsarbeit. Zuchthaus unter freiem Himmel. Tropische Hölle. War das Lachen eine Art, der Realität zu trotzen? Mit dem Lachen der Peitsche ausweichen? Mit allen Zähnen lachen, weiß wie lauter Fahnen nicht der Kapitulation,

sondern des Sieges, um uns einzureden, dass unsere Existenz nicht die war, die sie war. Dass sie das genaue Gegenteil war.

Freude. So sehr Täuschung, dass sie mit Händen zu greifen war. Lachen aus Widerstandsfähigkeit. Lachen aus Überlebenswillen. Die freudige Feststellung, dass wir trotz allem noch am Leben waren. Dass unser angeschlitztes Fleisch sich noch bewegte – dass es sogar ackerte, erntete und enorme Bündel auf den geschundenen Rücken lud. Dass unsere verleugneten Seelen noch erbebten, dass in uns Sinn und Gefühl vereint waren, in uns Geschichten entstanden, Rhythmen, Tänze und Gesänge.

Lachen aus Unverfrorenheit. Lachen aus Vermessenheit. Lachen, um mit dem Finger auf den extremen Irrsinn der Situation zu zeigen. Lachen, um auszudrücken, wie komisch die Situation war – spielen wir mit der Zweideutigkeit des Wortes: ein komisches Gesicht machen, ein komischer Kerl sein, einen komischenKrieg führen3. Die Plantage war eine komische Realität, merkwürdig und unlogisch. Ist es das, was unser Lachen bis heute verkündet? Dass die Ordnung der Dinge absurd ist. Dass das Gleichgewicht der Welt nichts wert ist. Das dies nicht dazu berufen ist, so zu sein.

Lachen aus Stärke. Unserer Stärke angesichts der Misshandlungen. Diejenigen, die sie uns antaten, hätten sie selbst nicht überlebt. Übrigens lachten sie nicht, denn den Menschen auszulachen, den man selbst zu Boden geworfen hat, ist kein Lachen, über eine Frau zu lachen, die man über alle Maßen zerschunden hat, ist kein Lachen.

Lachen, das auf einem Privileg beruht, ist kein Lachen. Es ist, wie sich auf die eigene Brust zu schlagen, seine Macht hinauszubellen, das hat nichts Fröhliches an sich. Die Herrschenden können nicht lachen. Sie sind vom Lachen ausgeschlossen, sie haben sich selbst ausgeschlossen, sie, die als letzte Bewohner des Plantagenanwesens noch in denselben Häusern leben wie in einem Gefängnis, dessen Schlüssel sie haben, aber nicht benutzen

wollen.

[…]

Oft ist unser Lachen Gegenstand von Karikaturen gewesen, ein Vorwand, um uns schlecht zu machen. So viel zu lachen, sogar am Boden des Abgrunds, ist verdächtig. Vergessen wir nicht, dass unsere Geschichte uns mit der pessimistischsten aller Nationen verbindet. Mit derjenigen, die den Rekord im Konsum von Antidepressiva pro Nase hält – die Abhängigkeit von besagten Antidepressiva hätte einen gewissen Schick, habe ich mich schon sagen gehört. Es ist die, deren eigene Denker zugeben, dass sie »ein Paradies ist, bevölkert von Menschen, die sich in der Hölle wähnen«. Ein Land, mit dem man paradoxerweise Vergnügen verbindet – guten Wein, gutes Essen und sogar sexuelle Freizügigkeit –, aber keinesfalls Humor, Lachen. Ein Land, in dem man nur aufgrund eines Missverständnisses zu lachen scheint. In dem man sich vorstellt, dass der einzige Grund zu lachen der Andere ist – eben dort liegt das Missverständnis. Manchmal ist der Andere der Stärkere. Es gibt eine Tradition, über den Unterdrücker zu lachen, über die Reichen, über die Chefs, über die katholische Kirche. Das politische Lachen. Lachen, das in Wahrheit ein wenig bitter ist und das die Spannung abbaut, die Frustration, das kurzzeitig den Deckel des Schnellkochtopfs lüftet, damit er nicht explodiert, ohne dass man deswegen gezwungen wäre, den Herd unter ihm abzustellen. Aber der Andere ist zumeist der Fremde, der Kolonisierte, der Kanake, der Belgier, die Blonde, die Frau, der Homosexuelle, der Sch’ti, der Marseiller, der Typ mit dem Akzent. Mit Leeb und Bigard5 lachen – ist das lachen? Ja sicher, in bestimmter Hinsicht. Aber es ist ein Lachen, das denjenigen, der lacht, keineswegs befreit, ihm keineswegs die Macht verleiht, die das Lachen heimlich in sich trägt, sondern das ihn ganz im Gegenteil in seinen Vorurteilen einschließt, in seinem Überlegenheitskomplex, in seinen unguten Schrägheiten. Es ist zudem ein Lachen ohne andauernde Wirkung (man muss es definitiv ergänzen durch Chemie, durch trink- und rauchbare Substanzen, sogar durch Tabletten).

Es ist verwirrend festzustellen, dass in Frankreich die wenigen Humoristen, die sich in Selbstironie üben, gerade zu den Anderen gehören, zu denjenigen, über die sich die Geschichte bereits lustig gemacht hat (Araber, Juden, Schwarze, Frauen). Dieses Lachen über die Gemeinschaft, so könnte man es auf die Schnelle sagen, ist effizient aber riskant, denn es kann sich gegen die »Gemeinschaft« wenden, aus der es hervorgegangen ist, wenn es falsch aufgefasst, von einem schlecht instruierten Publikum wörtlich genommen wird.

Ohne Zweifel schürt unsere Kunst des Lachens das Misstrauen desjenigen, der sich als dominant, in Überzahl oder universell begreift. Wahrscheinlich rütteln seine Erschütterungen am Sockel, auf dem Statuen und Gewissheiten thronen. Es ist wie das Lachen eines Verrückten oder Besessenen, es hält den geistig Gesunden

auf Distanz.

Auch kann es den Eindruck eines Lachens in Trance machen. Lachen der Verrücktheit. Lachen, das mit dem Finger die Hölle berührt. Einige ziehen es vor, sich mit diesem Lachen nicht vertraut zu machen, weil sie überzeugt sind, dass sie es niemals benötigen werden. Aber wer kennt schon die Zukunft? Weiß man schon vorab, wann man selber in den realen oder symbolischen Kielraum eines Schiffes gestürzt wird? Manche Sockel stürzen ohne Vorwarnung ein. Manche Entwurzelung kommt ohne Ankündigung.

Derjenige, der aus einem schuldbehafteten Ausbruch an Lebensfreude hervorgegangen ist, versteckt hinter den Dünen, glaubte, dass dieses Lachen alles retten kann, weil es nach der längsten und leidvollsten aller Reisen herausgeplatzt ist. Am Ende einer anderen Reise hatte er uns gefunden. Seine Meister, die ihn das Lachen lehren. Ich weiß nicht, an welcher Stelle seines Lehrpfades er steht. Ich hoffe, er schreitet voran, er kommt seinem Ziel näher und ist nicht nur die Summe enttäuschter Hoffnungen.

Denn vielleicht kann man einem das Lachen im Grunde genommen nicht beibringen. Vielleicht erlangt man es nur durch Erfahrung, am Ende einer Überfahrt im Kielraum, auf einer Plantage, auf der das tägliche Grauen gesät wird, als Preis des Irrschweifens oder der Hölle.

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