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Kettly Mars

Kasalé

Inhalt

In einem kleinen haitianischen Dorf bewahrt Antoinette, genannt Gran’n, Großmutter, die althergebrachten Praktiken und Riten. Um sie herum andere, jüngere Frauen, vor allem Sophonie, die „auf dem Höhepunkt des Regenschauers in andere Umstände fiel.“ Antoinette hat in ihr die erkannt, die ihr nachfolgen soll, aber Sophonie zögert und begreift auch erst nach und nach, was es mit dem Kind auf sich hat, das sie erwartet.

Antoinette fühlt ihr Ende nahen, will aber noch einen letzten Auftrag erfüllen: Das Haus der Mysterien, der Geister des Voodoo, das ein Unwetter zerstört hat, muss wieder aufgebaut werden. Das Projekt droht die Gemeinschaft zu entzweien, denn viele Bewohner haben sich von den Mysterien abgewendet …

Kettly Mars’ erster Roman erzählt in der Tradition des magischen Realismus und durchdrungen von der Spiritualität des Voodoo von der Welt des ländlichen Haiti, von der tragenden Rolle der Frauen und von den Konflikten mit der vermeintlich modernen Welt.

Leseprobe

In dieser Nacht fiel Sophonie auf dem Höhepunkt des Regenschauers in andere Umstände. Ein flüssiger Traum bemächtigte sich ihres Körpers in dem Moment, als der Fluss über seine Ufer trat und in Gran’ns Hinterhof den Zimtapfelbaum entwurzelte. Sie erinnert sich nur an einen menschlichen, über ihren Schrei brandenden Wasserfall, ihren Bauch mit Schlägen bearbeitend, auf ihr Gesäß trommelnd wie die aufgewühlte Strömung, wenn sie in wütendem Geifer gegen Felswände schlägt. Eine kleine feuchte Brise wehte wirr, ließ die Blätter erzittern. Schwach knarrte die einzige Tür der Hütte in ihren Angeln. Als sie aus Traumtiefen erwachte, vernahm sie das Plätschern der letzten Regentropfen auf den Bananenblättern. Ihr Herz klopfte wild. Sie konnte ihre bebenden Glieder nicht unter Kontrolle bringen. Ihr war, als kämpfe sie noch gegen die Angriffe des Wassers. Sie zog ihre Decke hoch, beschloss, nicht mehr weiter zu schlafen, aus Angst, erneut in den seltsamen Traum zu gleiten, dessen lebhafte Bilder ihr nicht aus dem Geist wichen. Einige Meter weiter unten führte die Rivière-Froide ein lautes Brausen mit sich, man hätte meinen können, einen Chor von zehntausend Männern zu hören.

*

Kasalé schlummerte in einem Nebelbett, erstaunt und erschöpft von der Heftigkeit des nächtlichen Gewitters. Trotz ihrer Müdigkeit und der ungewohnten Schwärze des anbrechenden Tages läutete die Routine in Sophonies Körper zum Aufstehen. Tastend suchte sie die Wand hinter sich ab, nahm von dem zwischen zwei Nägeln gespannten Draht das große Tuch, in das sie sich immer frühmorgens hüllte. Als sie bereits stand, gaben die Beine unter ihrem Gewicht nach. Sie drückte beide Hände auf den Unterleib und setzte sich gleich wieder. Mit gerunzelter Stirn und geschlossenen Augen folgte sie dem Verlauf eines schmerzhaften Ziehens vom Schritt bis zum Bauchnabel. Einige Minuten verharrte sie zusammengekauert, bis ihr Unwohlsein nachließ.

Kurz darauf machte sie sich in ihrem kleinen Hof mit dem Metallbecher in der Hand an eine schnelle Körperpflege. Sie ahnte die Gegenwart des Wassers wie die eines lebendigen Christenmenschen. Die in den Bäumen verborgenen Saumfingerechsen brachten, berauscht von der Frische, klare, heitere Töne hervor. Als sie gerade ihre Waschungen beendete, schwankte Sophonie unter einem Schwindelanfall und musste sich am eiskalten Stamm eines Bananenbaums abstützen. Überwältigt von einer Übelkeit spuckte sie einen dünnen Gallestrahl. In ihrem Gehirn keimte eine verrückte Einsicht, unterstützt von den Empfindungen, die ihren Körper aufwühlten. Etwas Absurdes, etwas Ungeheures, worüber sie hätte lachen sollen. Aber bereits eine Gewissheit. Der Fluss lebte in ihrem Bauch. Sie konnte den Augenblick auf die Minute bestimmen, an dem ein neues Leben in ihrem Schoß begonnen hatte. Manche Frauen täuschen sich in solchen Dingen nicht. In dieser Nacht hatte ihre Lagerstatt jedoch keinen Mann aus Blut oder Wasser empfangen. Zumindest glaubte sie das. Seit sieben Monaten und neun Tagen hielt sie ein Keuschheitsgelübde, ein Versprechen an den Heiligen Antonius von Nan-Godé, trotz der Gelüste ihres Fleisches streng ein.

Sophonie, versunken in ihr inneres Flüstern, bemerkte nicht, dass eine männliche Silhouette den Fluss hinaufkam. Athanaël sammelte, bekleidet nur mit einem weißen Baumwollslip, die schönen Steine ein, die der Wasserlauf von den Kasalé überragenden Hügeln herunterschwemmte. Er kam immer nach dem Regen, um das Rohmaterial einzusammeln, aus dem er die in seinen Katzenaugen schlafenden Formen herausmeißelte. Er musste sich beeilen, um schneller als die Steineklopfer zu sein, die den Ort besetzten, sobald der Zorn des Wassers nachließ. Oft erschien er mitten in der Nacht, unempfindlich gegen den Kältestachel auf seiner Haut, vollkommen unerschrocken vor dem Tanz der Schatten, die den lakou* bevölkerten. Der Mann ließ seine Muskeln spielen, um der schäumenden Wut Widerstand zu leisten. Mit ausgestreckten Armen umfasste er den Fluss von Ufer zu Ufer. Mit bloßen Händen maß er sich in gleicher Stärke mit den Elementen. Aber Sophonie sah ihn gar nicht. Sie erinnerte sich nicht an ihren Kampf mit dem Fluss-Mann, ihre stoßweisen Atemzüge, den Duft der Achseln des Unbekannten, verheißend wie der Duft der ersten Regentropfen auf nach Wasser dürstender Erde.

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