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Rodney Saint-Éloi

Wenn es traurig wird, singt Bertha

Inhalt

Rodney Saint-Éloi erweist seiner Mutter seine Hommage. Bertha, eine charakterstarke, „in die Liebe verliebte“ Frau voller Energie, bekannt für ihre Großzügigkeit, ist gerade gestorben. Der älteste Sohn erzählt von der Kindheit im Heimatland und ihrem Weg ins Exil, sie nach New York, er nach Montreal. Die Erzählung wird zum Dialog, auf der einen Seite der Mann, der unter der Diktatur aufgewachsen ist, davon träumte, Schriftsteller zu werden, und dem es gelang, Worte für den Zorn, das Leid, die Freude und die Liebe zu finden, auf der anderen Seite die Mutter, die die Erinnerung an das »Marod-Land« und die Hoffnung wachhält. Ein ergreifendes und poetisches Werk.

Leseprobe

Moïse schickt die Papiere für Lolo, meinen kleinen Bruder, der ist kaum fünf, der kleine Prinz, das kleine Schlusslicht, total süß, total schön. Er regelt alles über ein Reisebüro. Er richtet kein Wort an dich. Du lässt dir diese Beleidigung nicht gefallen. Du erträgst keine Lynchjustiz. Im Land des Vergessens und Verzichts mauert er sich in seine zersplitterte Welt ein. Er nimmt dir deinen Sohn weg, den Letztgeborenen. Er nimmt diesen Sohn mit, euren Zeugen. Nein. Das lässt du dir nicht bieten. Als wäre Lolo nicht zwischen deinen Schenkeln hervorgekommen. Du schwörst, das wird Moïse teuer zu stehen kommen.

Du fährst nach New York, und es ist deine zweite Reise, tatsächlich die letzte mit deinem Schlüssel, deinen Ideen einer Grande Dame. Du fährst dorthin, um Lolo wiederzusehen. Du hast schon viel zu lang nichts mehr von ihm gehört. Du fährst auch hin, um dir Klarheit zu verschaffen über die Vorkommnisse. Um dich deiner Niederlage zu stellen. Du, nur du weißt es. Du zerreißt eine Liebe. Du handelst dir einen Schmerz ein. Du zahlst für ein Glück. Du forderst innere Gewitter heraus, beschwichtigst deine Phantome. Eine neue Wegkreuzung voller Gefahren und viel von dir selbst erwartet dich. Es ist kein Zufall. Du stürzt dich in widrige Winde.

In New York angekommen, lässt du dich bei deinem Cousin Franck in Brooklyn in der Nostrand Avenue nieder. Die Nachricht hat sich rasch verbreitet. Von New York über Boston und Montreal bis nach Miami. Die Angehörigen kommentieren deine Ankunft in Amerika. „Diesmal kein Urlaub, sondern um zu bleiben. Bertha hat den großen Sprung gemacht. Willkommen, meine Gevatterin, der Herrgott begleite deine Schritte im fremden Land.“ Du passt dich gut an dein neues Leben an. Du tust alles Erforderliche in reinster Demut. Du wirst dir zu helfen wissen, ohne Versagen, wie die anderen. Du hältst es mit hinfallen – aufstehen, hart arbeiten, dich durchschlagen, um die Ecken ausfindig zu machen, wo sich das Leben abspielt. Du wirst die Horizonte aufrütteln. Du wirst Länder und Meere aufwühlen, um zu sehen, du bist da, um an die Tür von morgen zu klopfen. So ist es, das

Leben auf der anderen Seite des Wassers. Du hebst deinen Stolz auf und machst es wie alle anderen. Du lebst. Du überlebst. Je nachdem.

Moïse hat Wind von deiner Anwesenheit bekommen. Von Boston aus bildet er sich etwas ein. Er hinterfragt nichts. Er geniert sich nicht. Er macht sich auf den Weg nach New York und kommt dich besuchen, unangekündigt. Er kennt Cousin Franck gut. Er würde gern da wieder anfangen, wo er aufgehört hat. Unsensibel und wohlhabend, dicker Schlitten, schicke Klamotten, protziger Schmuck, so streicht er seine Vorzüge heraus. Weder die vergangene Zeit noch der beleidigende Brief haben der Sache Abbruch getan. Er ist ins Gestern zurückgekehrt, diese verbrannte Zeit.

Für dich existiert er auf dem Planeten Erde nicht mehr. Sein Hund ist bereits in allen Träumen begraben worden. Er schaut dich nicht an. Er starrt auf die Spitze seiner Wampe, sein hervorstehendes Fleisch eines Parvenu beherrscht sein ganzes Denken, der Reichtum seines Cousins Mister Business, eines Investors, der mit Immobilien zu Geld kam und dessen Sekretär er ist.

Wie ein Wohnungseigentümer kehrt er zu dir in dieses einfache Apartment in Brooklyn zurück. Er zeigt dir Fotos von Lolo, rühmt dessen Heldentaten. Unvermittelt teilt er dir mit, dass er reich ist infolge des Immobilienbooms und die Regierung auch bei der Flüchtlingsbetreuung berät. Als Grandseigneur wird er dir eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und das ganze Gold von Peru bieten, wenn du ihn bloß heiratest, es wäre wunderbar, weil du dann die glücklichste Frau der Welt wärest.

Du tust so, als ob du nichts hören würdest. Du tust so, als ob du nichts verstehen würdest. Du fragst dich, ob es wahr ist und ob deine Ohren richtig hören, was aus dem Mund von Moïse kommt. Er wiederholt seinen Antrag in allen Tonarten. Er nähert sich dir. Er streichelt deinen Arm und zieht dich an sich, um dich zu umarmen. Zuviel, das ist zu viel. Jetzt reagierst du. Deine Antwort erfolgt in einer Mischung aus Geringschätzung und Stärke. Wie bei deinen sieben Wünschen suchst du das Weiße in den Augen von Moïse, und du schreist ihn an, egal, was mit dir, ihm und den Nachbarinnen ist, die ihre Fenster sperrangelweit öffnen: „Selbst wenn du der letzte Mann auf Erden wärst, der einzige Mann nach der Sintflut, hätte ich mich lieber, wenn mich die Begierde einer geilen Frau überkommt, einem Rüden hingegeben. Ja, lieber ein Rüde auf meinem Bauch, als alles, was du bist.“

„Rüde“, schweres Geschütz, das tut weh, oh Unglück, wie weh das tut. Moïse will nichts davon hören. Dazu ist er nicht bereit, der Monsieur. Er verdaut weder deine Worte, noch deine Distanz, noch deine Überzeugung, noch deinen Blick. Eine Männerwut erfasst ihn. Im Auto liegen so viele Geschenke für dich. „Rüde“, das ist die allergrößte Beleidigung, die man einem reichen Mann ins Gesicht wirft, der sich nicht vorstellt, dass ein Mädchen wie du – so mittellos, so leichtlebig – es wagen würde, seine Gunstbezeigung zurückzuweisen. Er wird plötzlich schwärzer als eine schwarze Blutwurst. Die Augen fallen ihm schier aus dem Kopf. Er verpasst dir alle möglichen Schimpf- und Tiernamen. Er verspricht, es dir heimzuzahlen, diese Unverschämtheit, das Angebot auszuschlagen, dir ein Dach über dem Kopf zu verschaffen, für deinen Lebensunterhalt zu sorgen und dich zu heiraten. Er nennt das frequencité, die Unverschämtheit der Ablehnung. Während er die Tür gewaltsam aufstößt, überkommt ihn, jähzornig wie er ist, die flammende Wut, und er lässt die Reifen seines Mercedes quietschen.

 

Als du am nächsten Tag in der Dämmerung erschöpft von der Arbeit heimkommst, erwartet dich eine Überraschung: Lolo, dein neunjähriger Sohn, allein auf der Treppe, zwischen den Beinen ein Köfferchen mit ein paar Kleidungsstücken und seinen Papieren. Die Revanche von Moïse. Kein Cent. Kein Blick. Du wirst dich aufs Betteln verlegen, denkt er, um deinen Sohn zu ernähren. Da kennt er dich aber schlecht. Es lässt dich völlig kalt. Ein Sohn ohne Vater, das ist weder das erste, noch das letzte Mal, dass so etwas vorkommt. Im Übrigen geht dieses Fallbeil unentwegt auf Frauen nieder. Du kennst das Lied nur allzu gut. Du wirst nie wieder etwas von Moïse hören. Auch Lolo wird ihn nicht wiedersehen.

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