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Jean D'Amérique

Zerrissene Sonne

Inhalt

Du wirst allein sein in der großen Nacht … Diese Prophezeiung bekommt das junge Mädchen, das nur Tête Fêlée, etwa „Spinnerin“ genannt wird, ständig von „Papa“ zu hören, der freilich nicht ihr richtiger Vater ist. Immerhin hat Papa als bester Söldner des „Metall-Engels“, des mächtigsten Gangsters im Viertel, Karriere gemacht, während ihre Mutter Fleur d’Orange sich prostituieren muss. Als Fleur d’Orange ungewollt einen Coup des Metall-Engels vereitelt, kommt eine Lawine in Gang …
Tête Fêlées Erzählung pendelt zwischen den Erfahrungen von Gewalt, Übergriffen und unmöglicher Kindheit in den Slums von Port-au-Prince und dem immer wieder nie begonnenen Brief an eine Mitschülerin, in die sie verliebt ist. Diese Liebe ist jedoch nicht ihr einziges Geheimnis …

Ein einzigartiger Roman, in dem sich Sarkasmus und Unschuld zu grausiger Poesie verbinden, ausgezeichnet mit dem Prix Montluc Résistance et Liberté und dem Prix Dubreuil du premier roman der Société des Gens de Lettres.

 

Autorenportrait

Jean D’Amérique, geboren 1994 in Côte-de-Fer, Haiti, ist Lyriker, Rapper, Dramatiker und Romancier. Er erhielt insbesondere den Prix de Poésie de la Vocation für Nul chemin dans la peau que saignante étreinte (Cheyne, 2017) und den Prix Jean-Jacques Lerrant des Journées de Lyon des Auteurs de Thèâtre für Cathédrale des Cochons (Editions Théâtrales, 2020). Jean D’Amérique ist Leiter des Festifals Transe Poétique und der Lyrikzeitschrift Davertige. Ab Februar 2025 wird er sich als writer in residence für sechs Monate am Literaturhaus Zürich aufhalten.

Leseprobe

Die Vögel, die durch meinen Kopf schwirren, sind völlig aus dem Häuschen. Ihre Flügel ein Archipel aus Feuer. Ihr Gesang ein mit aufgewühlten Himmeln beladener Hügel. Ganz bestimmt sind es Boten des Lichts, die in mir die Erinnerung daran aufflattern lassen, dass am letzten Schultag meine Haut so sacht gestreift wurde. Aber wie immer kriege ich es nicht hin, auch nur einen Schimmer dieses Glücks einzufangen, den als langer Schauer durch meine Venen zuckenden Blitz auf die Seite zu bannen. Streichungen. Ein Königreich aus zerknülltem Papier.
Papa wirft sich sein Wutkleid über, um uns wachzurütteln, unseren Geist zu bearbeiten. Kurze Erinnerung an die Funktion seines Mundes, ein auf die erstbeste Schwachstelle lauerndes Maschinengewehr. Mit feuerbrünstigem Blut stürmt er los, wogt durch sein Donnerwetter, sein ganzer Körper ist einer gewaltigen Rhapsodie hingegeben, er schimpft, wie man ihn selbst nie, nicht einmal in seiner Kindheit, beschimpft hat. Wenn die Kindheit, wie er glaubt, das Alter des Schweigens ist, hat er eigentlich gar keine Kindheit gehabt. Der fernste uns überlieferte Zweig seiner Geschichte ist der Pakt mit der Straße. Und wie der Metall-Engel so schön sagt, ist Schluss mit dem Kindsein, wenn uns nur noch die Straße in den Armen wiegt.
Papa breitet sich als wutschnaubende Welle unterm Dach aus. Draußen sammelt der Himmel seine Spitzen ein. Die Lichter des Tags legen ihre Schleier lautlos in unsichtbaren Wind aus. Die Nacht hat es uns gerade mitgeteilt. Fluten von Schatten, die die Dämmerung aufsaugen. Der berüchtigte Heidenlärm aus unseren Mündern, die über die Wiederherstellung der Stromversorgung jubeln, ist noch nicht losgebrochen. In der Regel gönnen wir uns, wenn wir uns bereits was in den Bauch geschlagen haben und noch fünf Gourdes übrig sind, eine Kerze, um die Dunkelheit zu untergraben. Das sind die besten Almosen, die wir den vom lebenswichtigen Licht gezeichneten Tagen abluchsen können. Wir rechnen nicht jeden Tag mit Strom, es gibt ihn eher selten, eine chronische Abwesenheit, wie die der Familienväter. Das Azur schwindet, kein Stern, der unseren Augen Blau vorgaukeln könnte, das Herz der Hütte wird angesteckt. Die Taschenlampe eines Telefons hilft uns dabei, die Haut des finsteren Besuchers zu durchlöchern.

Du wirst … Du wirst allein sein.

Als Liebes-Sarkophag fühlt sich Papa nur wirklich lebendig, wenn er zuhaut. Zuhauen … Ganz egal, wo er hinhaut. Faustpoetik. Ich schlage, also bin ich. Mit Geschicklichkeitsspielen gibt sich Papa gar nicht erst ab. Er hasst alles, was seiner Meinung nicht genug an den Muskeln zerrt. Zum Beispiel hält er Literatur nicht aus. Schreiben wäre für ihn Körperbeleidigung. Er gehört nicht zu den Wesen, die sich der Poesie öffnen. Dichter haben riesige Fäuste: Für diesen Vers würde er Bernard Lavilliers wie ekligen Sirup runterschlucken. Er hat keinen Sinn für Worte. Eines Tages, als er einen Schriftsteller im Fernsehen reden hörte – und es war nicht etwa so, dass er nichts von dessen Rede verstand, es widerte ihn einfach nur an, dass der sich damit zufrieden gab, Schriftsteller zu sein –, wetterte er gegen den Bildschirm wie eine Sphinx: »Wenn du was anderes im Sinn hättest, als nur deine Bibliografie aufzublähen, wenn du so viele Faustschläge wie Wörter austeilen würdest, wären manche von den Arschlöchern, die du lieber mundtot hättest, schon einen Kopf kleiner!«

Das Herz des Viertels schlägt im Rhythmus der Leere. Ohne Unterlass verzweigen sich die Schatten, bis sie sich zu einer jener Nächte verdichten, in denen noch der letzte Funke der Netzhaut erlischt. Einer dieser schweren Nächte, die spürbar an der Uhr ziehen, um die Morgendämmerträume abzutreiben. Einer dieser Nächte, die der Straße ihre Schreckensklamotten überwerfen. Sie lässt ihre Stille dahinfließen, wie es der Beton vorgibt, während Gewehre die Symphonie dirigieren.
Ich halte noch immer Ausschau nach der Seite, lasse nicht locker und lade den Gesang ein, sich mit meiner Stimme zu vermengen. Wie buchstabiere ich das in meinem Blut brodelnde Gefühl jenseits des ABCs der Leere? Papa sitzt auf einer kleinen Bank vor der Tür, nimmt eine seiner rituellen Gesten auf. Von seinen Lippen erhebt er einen roten Punkt, der nur ein kleines Stückchen der raumverzerrenden Finsternis annagt. Der Wolkenreiter hält seinen Joint in den Himmel, als wolle er die Aufmerksamkeit des Gottes auf sich ziehen, den das Märchen vom gebenden Mund und dem empfangenden Ohr seit Ewigkeiten dort versteckt hält. Papa ignoriert ihn, doch sieht es ganz so aus, als hätte der Allerhöchste ihn im Visier und sei darauf aus, in die Gnade eines Zugs zu kommen. Keine Ahnung, vielleicht weint er um ein bisschen Cannabis. Wer weiß schon, woher das Phänomen des Regens kommt   Armer Gott! Da hat man ihn beschuldigt, alles erschaffen zu haben, er aber ist einfach nur angetan von einer schlichten Pflanze, die in der Lage ist, ihn auf einen Trip hinter die Sterne und über die traurigen Himmel hinaus zu schicken, in den die Menschen ihn gesteckt haben.

Du wirst … Du wirst allein sein.

Meine Mutter versucht, ihren Blick zu heben, der unterm Angstschrott klemmt. Ein schüchterner Blick in Papas Rücken, dann gesenktes Haupt – man hört sie einen heftigen Schlag einkassieren, aus ihren Augen laufen Wasserfäden, Komplizen der schweren Stille.

Während seine Kleidung in einer Waschschüssel die Hände von Fleur d’Orange beschäftigt hält, versucht Papa, sich auf den Rauch zu konzentrieren, den er mit akrobatischem Atem dirigiert. Das gelingt ihm aber kaum. Es plagt ihn eine entscheidende Frage, er ist in sich selbst verheddert, in den ewigen Spinnfäden, in denen seine Seele eingewickelt ist. Eine Frage, die ihn jedes Mal einholt, wenn ihm das Missgeschick widerfährt, über das Leben nachzudenken, das er bewohnt. Was habe ich nur aus meinem Menschenlicht gemacht? Das treibt ihn um. Er würde sich den Kopf zerbrechen, in die Tiefe gehen und in seine innersten Spiegel blicken, sich neu ausmalen, auf seine verstreuten Scherben

springen. Es ist aber vergebene Liebesmüh, das Spiegelbild, das er nie zu greifen vermocht hat, austricksen zu wollen. Es hieße, an der Grimasse des Lebens zu zerschellen. Er verflucht seine Gedanken. Dass er von der Knarre besessen ist, durchdringt ihn bereits mehr als sein Verstand. Er bürstet nicht einmal mehr das Metall; in den Blutstropfen, die sie bedecken, sieht Papa vielmehr glorreiche Versprechungen aufblitzen. Zurück zum roten Faden seines Lebens.
Die Zimmertür nimmt es ihm bestimmt übel, dass er sie beim Weggehen so laut zugeschlagen hat. Der Lärm, den sie aussendet, trägt mit der gleichen Heftigkeit auch Papas Stimme weiter, als der mich noch einmal anfährt.

Du wirst …

Du wirst allein sein in der großen Nacht. Es ist nicht das erste Mal, dass ich diesen Satz höre. Er kribbelt in den Venen. Ich habe immer versucht, versuche immer noch, seinen Sinn zu erfassen. Papa knallt ihn mir oft an den Kopf, er fließt in seinen Zorn gegen mich wie die Schneide eines Schicksals, das mir an der Kehle liegt. Ich esse mein Stück Brot auf, trinke mein Glas Zuckerwasser

aus und lege mich auf das, was man Bett zu nennen wagt, will sagen, auf etwas, das den Körper nur ganz knapp vom Boden trennt. Man muss wirklich per du sein mit der Armut, um mit so etwas zurechtzukommen. Oder sich einfach nur in dieser Stadt aufgehalten haben, in der Nacht des zwölften Tages des Jahres, das das zweite Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts

eingeläutet hat. Körper, die den Beton streicheln. Fleisch, das dem Gutdünken des Asphalts ausgeliefert ist. Ohne jeden Vorbehalt. Nach dem stürmischen Aufstand der Gemäuer wurde die nächtliche Schlafstätte auf nacktem Boden zur unvermeidlichen Aufenthaltszone eines ganzen Volks.

Mama scheint mit der Wäsche fertig zu sein. Ich spüre aber ihre Wärme immer noch nicht bei mir. Ich muss mich gedulden, bis ich das Gefühl der Sicherheit genießen kann, wenn sie sich neben mich legt. Ich höre sie Rum herunterkippen. Sie trinkt gerne, um ihre Blumen der Schlaflosigkeit sprießen zu lassen.

In meinem Kopf gehe ich meinen Lebenskreislauf noch einmal durch, stelle mir alle Löcher noch einmal vor, in die ich mich fallen lassen könnte, um zu schlafen, um für einige Stunden die Welt loszuwerden. Das reicht nicht. Der Tag bleibt auf meiner Netzhaut hängen, meine Lider sind noch auf dem Schlachtfeld. Vor mir liegt eine heftige Kletterpartie, die es zu meistern gilt. Papa und seine Schallplatte zerschneiden meinen Geist. Du wirst … Ich zerschelle an dem dichten Abend, weiß nicht, wie ich meinen Brief zu Ende bekommen soll, kriege mein Herz nicht auf die Seite gebannt. Seit langer Zeit schon rauben mir bittere Schatten die Worte, durchzieht mich ein Schweigefluss. Wie soll ich mich bloß an mein Spiegelherz wenden, wie dem Wesen das mir die Venen versengt, meine Liebe erklären? Während die Uhr zu langsam läuft, werde ich matt. Ich vertue die Zeit damit, meinen Körper hin und her zu wälzen, bis ich endlich die Schwelle des Schlafs erreiche.

Die Nacht rieselt bis in die Morgendämmerung auf meine Albträume nieder.

Pressestimmen

Le monde des livres, Gladys Marivat

Ein shakespearehaftes Romandebut von tragischer Schönheit.

Auszug aus: Le monde, Gladys Marivat, 18.3.2021

Lesering.de, Ute Pappelbaum

Zerrissene Sonne ist kein leichter Roman, doch gerade in seiner Härte liegt seine literarische Stärke. Jean D’Amérique gibt den Menschen Haitis eine Stimme, die weit über die Grenzen des Landes hinaus Gehör finden sollte. Durch die Kombination aus poetischer Sprache, eindringlicher Gesellschaftskritik und einer tiefgründigen Charakterzeichnung entsteht ein Werk, das lange nachhallt. Leserinnen und Leser, die sich auf diese intensive Leseerfahrung einlassen, werden nicht nur literarisch, sondern auch emotional und intellektuell bereichert.

Auszug aus: Lesering.de, Ute Pappelbaum, 6.12.2024

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