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Gary Victor

An der Kreuzung der Parallelstraßen

Inhalt

Haiti Ende der Neunzigerjahre: Éric, ein ehemaliger Beamter, der aufgrund von Strukturanpassungsprogrammen entlassen wurde, will sich an denen rächen, die er für sein Unglück verantwortlich macht. Er beginnt einen Amoklauf durch ein Port-au-Prince, in dem der nach der absoluten Macht strebende „Erwählte“ eine neue Ordnung zu errichten sucht. Zugleich kehren sich Schriften um, Spiegel werden blind, eine Heiligenstatue treibt sich den Straßen herum, und der Erwählte lässt Gott ermorden …

Ein Höllenritt durch eine apokalyptische Szenerie. Gary Victors härtester und in Haiti meistdiskutierter Roman, ausgezeichnet mit dem Prix du livre insulaire 2003.

Autorenportrait

Gary Victor, geboren 1958 in Port-au-Prince, studierter Agronom, gehört zu den populärsten haitianischen Gegenwartsautoren. Im deutschsprachigen Raum wurde er vor allem durch seine Kriminalromane um Inspektor Dieuswalwe Azémar bekannt. Seine drastischen Schilderungen gesellschaftlicher Missstände stellen ihn in die Tradition der Sozialromane des 19. Jahrhunderts und machen ihn zu einem der subversivsten zeitgenössischen Schriftsteller Haitis. Gary Victor wurde mit mehreren Preisen, darunter dem Prix RFO, ausgezeichnet. Er war mehrfach auf der Krimibestenliste (DIE ZEIT, später DLF/F.A.S) sowie auf der Litprom-Bestenliste Weltempfänger platziert und hat mehrere erfolgreiche Lesereisen durch Deutschland, Österreich und die Schweiz unternommen.

Leseprobe

Ich hörte Marthe aufheulen, dann das Klirren von einem Glas. Anschließend schrie sie etwas und wiederholte den Schrei wie eine hängengebliebene Schallplatte: »Der Spiegel! Der Spiegel!« Anastase saß weiter über sein Heft gebeugt und kritzelte Gedichte, die niemand mehr las und auch niemand veröffentlichen wollte, da sie angeblich zu weit unter der Qualität seines ersten Bandes blieben. »Was ist mit dem Spiegel?«, brummte er in einem Ton, der deutlich zu verstehen gab, dass Marthes Problem ihn nicht scherte. Die junge Frau erschien auf der Schwelle des Zimmers. Ihr Haar war zerzaust, ihr Makeup verschmiert, und sie wirkte so verschreckt, dass man meinen konnte, sie habe gerade das Gespenst gesehen, das der Großvater auf der Terrasse überrascht haben wollte, wie es in bestimmten Nächten Schlag zwölf Uhr kichernd über die Stadt schaute. Sie schwenkte mit schreckensverzerrtem Gesicht den Spiegel: »Der Spiegel …«, schluchzte sie, während sie ihn vorwies, »der Spiegel!«

»Was ist denn los mit dem Spiegel?«, fragte ich, meinen Ärger mühsam bezwingend.

»Oh Spiegel! Wasser durchs Leid im Rahmen eingefroren«, deklamierte Anastase ironisch.

Seit über einer Stunde mühte ich mich nun mit der Feder eines der drei Magazine der alten Automatik ab, einer 45er, die ich einem Hafenarbeiter für einen Apfel und ein Ei abgekauft hatte. Es kostete mich Überwindung, Marthe keine Kugel mitten in den Kopf zu jagen. Ich konnte sie nicht mehr ertragen. Ihre Ticks, ihre Manien, ihre Stimme, ihre Art, sich in den Hüften zu wiegen, wenn sie halbnackt wie eine Hure durchs Haus spazierte, ihr Parfum, alles widerte mich an. Ich verstand nicht, warum der Großvater sie weiter duldete, weil sie angeblich zur Familie gehörte. […] »Der Spiegel!«, heulte Marthe erneut. »Man sieht nichts darin. Man hat meinen Spiegel verhext. Er ist nicht nur kalt, Anastase, er ist tot. Grau wie gefrorene Asche, wie vereister Zement. Wird sein Leid mich erhaschen, mich erfassen, muss ich erblassen?«

»Das Koks spielt dir Streiche«, prustete Anastase. »Bei mir ist es das genaue Gegenteil. Ich mag Spiegel, wenn ich richtig high bin. Siehst du, der Spiegel ist das Auge des Universums. Da wir uns mit unserem eigenen Auge nicht sehen können, verschafft Gott uns ein anderes. In den Spiegeln sehen wir uns so, wie wir sind, innen wie außen. Einmal habe ich aus einem Spiegel einen Eselskopf herausschauen sehen. Und dieser Esel hat mich mit leuchtenden Augen angestrahlt wie die Scheinwerfer eines Autos. Diese Erfahrung hat mich zu einem Gedicht inspiriert. Soll ich es euch vorlesen?«

»Ich hab kein Koks genommen«, blaffte Marthe mit so schriller Stimme, dass ich mir schon vorstellte, wie alle Gläser im Zimmer zersprangen. »Ich sage doch, dass im Spiegel nichts zu sehen ist. Schaut nach, ob ich lüge.«

»Geh hin, Éric«, sagte Anastase, sichtlich betrübt darüber, dass niemand auf seinen Wunsch eingegangen war, das Gedicht vorzutragen, das der Esel von seinem Trip ihm eingegeben hatte. »Wenn ich jetzt aufstehe, ist meine Inspiration weg. Du hast keine Ahnung, wie schwierig es ist, Gedichte zu schreiben, wenn man unter Leuten lebt, die zu ungehobelt sind, um die Schönheit des Wortes zu schätzen. Das Wort steht am Ursprung von allem, und wir, wir gehen dem Wort voraus«, schloss er traurig.

 

»Wenn ich in ihre Nähe komme, erwürge ich sie«, sagte ich zu Anastase, jedes Wort einzeln betonend, damit er mich richtig verstand. »Der Großvater ist verrückt! Warum war er bereit, diese Nutte hier unterzubringen?«

»Ich verstehe«, seufzte Anastase. »Es ist wieder an mir, diese durchgedrehte Person zu beruhigen.«

»Ich bin nicht durchgedreht!«, brüllte Marthe und schwenkte den verdächtigen Spiegel in unsere Richtung. Sie war kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Endlich gelang es mir, die Feder in das Magazin einzuführen. Mit der ersten Patrone strich ich sanft und genüsslich über ein Foto von Mataro, dem Finanzminister, das ich aus einer sporadisch erscheinenden Zeitschrift ausgeschnitten hatte. Ich hatte darauf geachtet, die Überschrift mit auszuschneiden: »Mataro, Agent der CIA oder des IWF?« Mir kam es eigentlich nicht darauf an, ob Mataro nun ein Agent der CIA oder des IWF war. Was ändert das in diesem chaotischen Land, ob man für die CIA oder den IWF arbeitet oder nicht? Worauf es mir ankam, war, Mataro zur Strecke zu bringen. Dass Salomé mich verlassen hatte und die Aasgeier von der Bank mit diesem Arschloch von Gerichtsvollzieher bei mir aufgetaucht waren und alles gepfändet hatten, daran waren Mataro und seine Strukturanpassungsprogramme schuld. Und Mataro war nur der Erste auf meiner Liste! Ich wollte sie alle abknallen. Minister in der Hose! Das Land scherte sie einen Dreck. Sie wollten nur in Sicherheit sein, wenn eines Tages alles absaufen würde, sonst nichts!

»Eric! Wir wissen nicht mehr weiter. Komm mal!«

Jetzt brüllte Anastase. Er hielt den Spiegel mit beiden Händen von seinem Gesicht weg, als fürchtete er, der Esel von seinem Poetentrip könnte daraus hervorkommen und Rechenschaft von ihm verlangen.

»Sie hat Recht, Éric. Es ist etwas passiert. Der Spiegel wirft nichts zurück.« Anastase war nicht von der Sorte, die wegen allem und jedem in Panik gerät. Ich stand auf, um ihm den Spiegel abzunehmen. Marthe hatte sich aus Vorsicht ein Stück entfernt. Sie wusste, welche Gefühle sie in mir erzeugte, und hielt immer einen Sicherheitsabstand zwischen uns ein. Mit dem Spiegel in den Händen suchte ich vergeblich nach meinem Bild, dem eines Mannes in seinen Vierzigern mit knochigem Gesicht und einem Bart, den ich stur stehen ließ, da ich mir sagte, ich könnte so leichter mit der dreckigen Landschaft von Port-au-Prince verschmelzen. […]

»Ich kann’s nicht glauben, Éric«, rief Anastase im Ton eines Mannes, der auf einmal seinen Albtraum erlebt. Ich zuckte mit den Schultern.

»Der Spiegel hat einen Fabrikationsfehler.«

»Sag lieber, dass man ihn verhext hat, Éric«, jammerte Marthe. »Gestern Abend habe ich ihn vor dem Schlafengehen benutzt. Er hat normal funktioniert.«

»Du wirst uns jetzt nicht wegen einem Spiegel auf die Nerven gehen«, sagte ich mit drohender Miene, »also hau ab. Lass uns in Ruhe.«

Nach einem Blick, der Bände darüber sprach, welche Antwort sie mir gern ins Gesicht gespuckt hätte, kehrte sie uns den Rücken, ging in ihr Zimmer und schlug uns die Tür vor der Nase zu.

»Und wenn das bei allen Spiegeln so ist?«, fragte Anastase beunruhigt.

In plötzlicher Panik sammelte er seine auf dem Tisch verstreuten Blätter ein. »Dann kannst du sicher schnupfen, ohne Angst vor deinem Esel haben zu müssen«, antwortete ich, während seine irren Augen auf das glänzende Metall seines Füllfederhalters gerichtet waren, als suchten sie dort nach einem nicht vorhandenen Spiegelbild.

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