Sechs Uhr morgens. Ein weiterer Tag im Leben Claudes, den er auf seinem Balkon verbringen wird, während unter ihm der Kindergarten, den seine Schwester früher betrieben hat, verwaist daliegt. Zwei Kinder, Guy und Jacques Colin, wurden von den tontons macoutes als Geiseln genommen. Wie konnte die Miliz ihr Versteck finden? Der Tagesablauf verschwimmt mit den Erinnerungen und Träumen Claudes, den immerfort dieselbe Frage quält: Wer hat Guy und Jacques Colin verraten?
Anthony Phelps
Wer hat Guy und Jacques Colin verraten?
Inhalt
Autorenportrait
Anthony Phelps, Lyriker, Prosaautor, Journalist, Vortragskünstler und Bildhauer, geboren 1928 in Port-au-Prince, kann als lebender Klassiker Haitis gelten. Nach einem Chemiestudium in den USA gehörte er 1960 zu den Gründern der Gruppe Haïti Littéraire und der Zeitschrift Semences, die der haitinaischen Literatur bedeutende Impulse verleihen sollten. Als Gegner Duvaliers musste er 1964 nach einem Gefängnisaufenthalt ins Exil nach Montreal gehen, wo er noch heute lebt. Bis zu seiner Pensionierung war er dort als Nachrichtenredakteur bei Radio Canada tätig. Er gilt auch als einer der wichtigsten Gegenwartsautoren Québecs. Sein literarisches Werk umfasst etwa dreißig Bücher, darunter das Kultbuch Mon Pays que voici (1968), eine lyrische Hymne an sein Heimatland, und die Romane Moins l’infini (Paris, Les Éditeurs Français Réunis, 1973, überarbeitet unter dem Titel Des fleurs pour les héros, Paris, Le temps des cerises, 2013, deutsch Denn wiederkehren wird Unendlichkeit, Berlin, Aufbau-Verlag, 1976) und Mémoire en Colin Maillard (Montreal, Editions Nouvelle Optique, 1976). Der Zwang des Unvollendeten erschien 2006 im Verlag Leméac, Montreal unter dem Titel La contrainte de l’inachevé. Anthony Phelps erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter zweimal den Preis der Casa de las Americas. Im Frühjahr 2014 hielt er sich im Rahmen des Projekts Kreyol, die Kultur des Widerstandes in der Karibik in der Künstlervilla Waldberta bei München auf.
Leseprobe
Mittwoch, 23. September. Sechs Uhr morgens. In meinen Sessel gekauert, überlasse ich mich der liebkosenden Brise, die vom nahen Berg gekommen ist, und versuche mit geschlossenen Augen das rätselhafte Flüstern meines Muskatnussbaums zu entschlüsseln.
Wie üblich gelingt es mir nicht. So werde ich meine Erzählung wieder aufnehmen müssen. Es könnte gut sein, dass ich die Erklärung, nach der ich suche, in diesem quälenden Wiederholen derselben Geschehnisse entdecke und mir diese hundert Mal verfasste, aus- und neu eingefädelte Erzählung vielleicht endlich verrät, nach welchem geheimen Muster ihre Fäden verlaufen.
Aber was ist es denn, was ich am Ende zu entdecken hoffe? Welche sensationelle Offenbarung wird mir eine neue Vorführung jenes Films bringen, den ich in seinen geringsten Bildfolgen, seinen kürzesten Einblendungen kenne, wenn nicht die banale Feststellung der unabänderlichen Kain-Natur des Menschen? Ah! Aber wäre es nur das? Wäre es nur das?
»Ein B mit A gibt BA.« Von etwa vierzig hohen Stimmen gesungen, klingt das Buchstabenlied vom Kindergarten zu mir herauf, und ich stelle mir die über die Pulte gebeugten Köpfe, die kleinen Hände vor, die sich gewissenhaft mit den Buchstaben abmühen und sie aufmalen.
»Ein B mit I gibt BI.« Einer nach dem anderen wandern die Vokale durch den Sehnerv und prägen sich mit ihrer besonderen Form den Falten des jungen Gehirns ein. Ba, Be, Bi, Bo, Bu. Danach sind die zwanzig Konsonanten an der Reihe, für sich ein Feld zu finden. Ellpehtehzett und Dehbehix rangeln miteinander, schließen schließlich Frieden und singen zusammen mit Tsegehkah und den anderen: Papepipopu. Rareriroru.
Unter meinen geschlossenen Lidern sehe ich wieder alles, was das Reich meiner Schwester Yvonne, ihre hauptsächliche Einnahmequelle, ausmachte und bei weitem bedeutender als der kümmerliche kleine Scheck war, den sie vom Erziehungsministerium für Mathematikstunden am Nachmittag in jenem Mädchenkolleg erhielt, wo es fast unmöglich geworden war, sich durchzusetzen, denn wie soll man eine Schülerin tadeln, die es wagt, einem auf arrogante und verletzende Art zu antworten, weil ihr Vater, ihr Bruder oder ein Onkel der Zivilen Miliz angehört, was bedeutet, dass er befugt ist, mit dem Segen seines Chefs, des Gelehrten Doktors, des Präsidenten der Republik auf Lebenszeit, die Macht zu missbrauchen? Ich sehe die beiden großen Klassenräume mit ihren blank polierten Bänken, die in Reih und Glied da stehen, als warteten sie auf Benutzer, die grünen Tafeln, auf denen Yvonne sich verpflichtet gefühlt hat, unversehrt die letzten Worte zu bewahren, die dort an jenem Mittwoch vor sehr langer Zeit standen, an den Wänden die besten Farbstiftzeichnungen, unter anderen die Zeichnung von der kleinen Micheline, die ihr am besten gefiel und die sie besonders hervorgehoben hat. Ich rufe mit der Anwesenheitsliste auf, und die Antworten stürmen auf mich ein, umhüllen mich, rufen eine Benommenheit hervor, die sich meiner hinterhältig bemächtigt. Plötzlich öffne ich wieder die Augenlider, und die Wirklichkeit findet in ihren vertrauten Rhythmus zurück. Kein Kinderlied dringt durch meine Zimmerwände. Nichts weiter als das Flüstern der Blätter meines Muskatnussbaums am frühen Morgen. Die Klassenzimmer werden leer bleiben. Leer und nutzlos. Nutzlos auch der Spielplatz mit seinen Schaukeln und Wippen, die einen kräftigen Farbanstrich nötig hätten. Ich weigere mich indes, Yvonne diesen Gefallen zu tun. »Es ist sinnlos, Yvonne, und du weißt es genau so gut wie ich. Lass sie verrotten.«
»Oh!«
»Du denkst, dass, sobald das Zubehör vom Spielplatz wieder instand gesetzt ist, auch dein Garten seine Türen wieder öffnet, die Kinder wieder einströmen? Du täuschst dich gewaltig, meine Alte! Dein Kindergarten ist vorbei, erledigt, ›kaputt‹, wie Großvater auf Deutsch gesagt hätte. Vergiss ihn endgültig. Niemand mehr wird ihn betreten. Die Leute sind nicht verrückt. Sie haben Schiss und schicken ihre Sprösslinge nicht in eine gebrandmarkte Schule. Denn deine Schule ist auf der schwarzen Liste, wie du weißt. Also, warum sollte ich meine Zeit dafür verschwenden, alles instand zu halten? Du solltest lieber deinen Kram liquidieren, solange noch Zeit dafür ist.«
Pressestimmen
Cornelius Wüllenkemper, Radio SRF 2 Kultur
In Wer hat Guy und Jacques Colin verraten erzählt Anthony Phelps nicht nur die ergreifende Geschichte über die Zerrissenheit eines jungen Mannes zwischen der Furcht vor dem Regime und dem Drang nach dem Aufbegehren, zwischen Rebellion und Lähmung, er liefert zugleich ein einfühlsames Zeitenbild über die Folgen einer Diktatur für Menschen, Familien und die haitianische Gesellschaft und damit einen Blick in die menschlichen Abgründe einer Diktatur, auf höchstem literarischen Niveau.
Elise Graton, taz
Die Aufzugtür neben der Hotelrezeption öffnet sich. Anthony Phelps steigt aus und hebt etwas ausdruckslos die Hand zum Gruß. (…). Der 88-jährige Autor aus Haiti mit Wohnsitz in Montréal stellt einen Roman vor, der bereits vor vierzig Jahren in Québec erschien und nun – viel zu spät, aber immerhin – erstmals ins Deutsche übersetzt wurde. Unter dem Titel „Wer hat Guy und Jacques Colin verraten?“ (…)
Anthony Phelps ist nicht gerade zimperlich beim Urteil über das eigene Werk. Genauso wenig rücksichtsvoll ist er mit seinem Protagonisten Claude umgegangen. Claude geht regelrecht durch die Hölle. Seit Wochen hält er sich auf seinem Balkon verschanzt. Von dort wacht er über Port-au-Prince, Haitis Hauptstadt, und den verlassenen Kindergarten gegenüber, in dem seine Schwester Yvonne vor dem Überfall der Tontons Macoutes arbeitete: Sie kamen, um die dort versteckten Kinder des oppositionellen Anwalts Colin zu entführen. Nun quält Claude die Frage: Wer konnte sie nur verraten haben? (…)
Auch wenn Claude von der sich ausbreitenden Resignation nicht verschont wird, in seiner Gedankenflut gelingen ihm Augenblicke hoher Hellsichtigkeit, in denen er die Diktatur und ihre Verbrechen verarbeitet und entmystifiziert. Doch der Wahnsinn siegt. In einem fieberhaften Moment der Rachsucht fantasiert sich Claude auf den Weg zum Nationalpalast, um den „Präsidenten auf Lebenszeit“ zu töten. Die Trennung zwischen Widerstand und Anpassung, Realität und Rausch, individuellem und kollektivem Scheitern verschwimmt.
Nach dem Tod des Präsidenten François Duvalier im Jahr 1971 übernahm sein Sohn Jean-Claude aka „Bébé Doc“ das Zepter, bis er schließlich 1986 gestürzt wurde. Seitdem reist Phelps wieder regelmäßig in die Heimat. Sein vergangenes Jahr unter dem Titel „Der Zwang des Vollendeten“ auf Deutsch erschienene Roman beschreibt, wie seine Versuche einer vollständigen Rückkehr aber letztlich scheitern mussten.
Ohnehin würde das Land weiterhin von einem Mauschler nach dem anderen regiert. „Alle, die in Haiti Präsident werden wollen, haben lediglich Macht und Geld im Sinn. Und mehr nicht.“
Auf die Frage, ob er die Entwicklung aktueller, auf Hierarchien und Leitfiguren verzichtenden Protestbewegungen wie zuletzt Nuit debout oder Occupy verfolgt, lehnt er sich einen Moment gelassen zurück.
„Zum Schreiben benutze ich nur meine zwei Zeigefinger“, antwortet er dann. „Aber das hier …“ – Phelps bewegt seinen Daumen, als würde er ein Smartphone bedienen –, „das kann ich nicht.“ Das Internet sei ein prachtvolles Instrument, das es den Menschen ermöglicht, sich ohne vertikale Struktur zu mobilisieren. Phelps lächelt. „Aber aus dem Alter bin ich raus.“