Aus anderem Holz geschnitzt ist der Roman Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi von Louis-Philippe Dalembert, der Haiti in jungen Jahren verließ und als nomadisierender Schriftsteller in Paris ebenso wie in Rom und Tel Aviv zu Hause ist. Die im Roman geschilderte Rückkehr aus dem Exil wird zur Suche nach der verlorenen Kindheit auf den Spuren eines väterlichen Freunds, der von Beruf Schuhputzer war und sich Faustin I. nannte – in Anlehnung an den gleichnamigen Kaiser Haitis um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. […] Der soziale Abstieg vom Imperator zum Clochard drückt den Niedergang Haitis, das im Roman Salbounda (Dreckloch) heißt, von der Perle der Antillen zum Hinterhof der Karibik aus. Die Ironie liegt darin, dass der frühere Kaiser nach seiner Rückkehr aus dem Exil im Hafenviertel von Port-au-Prince verschüttging, wo sein Wiedergänger als Schuhputzer arbeitet und die Erinnerung an Haitis glorreiche Vergangenheit mit Alkohol betäubt.
Die Devise von Faustin I., »Bajonette sind aus Eisen, Verfassungen aus Papier«, hatte auch für dessen diktatorisch regierende Nachfolger Gültigkeit, insbesondere für »Papa Doc« Duvalier, im Roman »Der Ehrenwerte« genannt […]. Schon damals schien es, als sei der Tiefpunkt erreicht, doch erst nach dem Sturz der Diktatur ging das Land den Bach hinunter, buchstäblich und nicht im übertragenen Sinn: […]. Haiti rangiert am unteren Ende jedweder Statistik, wie der Autor ohne erhobenen Zeigefinger und ohne selbstgerechte Empörung konstatiert, in einer poetischen Prosa, die dem großen Gedicht von Aimé Césaire Cahier d’un retour au pays natal näher steht als der Recherche von Proust: »Sie hatten die letzte Kurve ihres Menschenweges genommen. Sie mussten das Licht nicht löschen, denn es gab keins. Vielleicht hatte es in ihrem Leben niemals eins gegeben. Sie mussten auch die Tür nicht schließen, es gab nichts zu stehlen in diesen Baracken, die über keine Tür verfügten. Sie waren einer nach dem anderen gegangen. Ohne eine Adresse oder eine Nachricht zu hinterlassen …«
In Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi, dem 1996 im französischen Original erschienenen ersten Roman Dalemberts, beschreibt der im Ausland lebende Ich-Erzähler einen Besuch in Salbounda (Haiti) auf den Spuren seiner Kindheit. Er hat keine Angehörigen mehr in dem Land, seine Eltern starben, als er noch ein Säugling war, die Großmutter, bei der er aufwuchs, lebt nicht mehr. So hofft er, wenigstens den Schuhputzer Faustin, der eine Art Ersatzvater für ihn war, wiederzufinden. Doch in der Straße im Hafenviertel von Port-aux-Crasses (Port-au-Prince – »crasse« bedeutet Dreck), in der er seine frühe Kindheit verbrachte, trifft er keine bekannten Gesichter, und niemand der aktuell dort Lebenden kann sich an einen Schuhputzer namens Faustin erinnern. […] Er beschließt, die Suche nach seinen Wurzeln aufzugeben und die Tage bis zu seinem Rückflug in seinem Hotelzimmer zu verbringen. Und dort findet er in seinen Träumen und Erinnerungen, was er auf der Straße vergeblich gesucht hat, seine verlorene Kindheit. Er denkt zurück an seine ebenso resolute wie großmütige Großmutter mit dem Spitznamen Pont-d’Avignon und all die anderen, die die Straße am Tage und vor allem nach Einbruch der Dunkelheit bevölkerten: ambulante Händler/innen, großmäulige Schuhputzer, obdachlose Tagelöhner/innen, Trunkenbolde. Sie bildeten den Mikrokosmos seiner Kindheit, bestimmten seine Sicht der Welt. Auch Faustin kehrt in der Phantasie zurück, der Erzähler beginnt dessen Biographie zu imaginieren – wie er als Jungvermählter aus seinem Dorf in die Stadt kam, dort verzweifelt versuchte, Fuß zu fassen, wie seine schwangere Frau ins Dorf zurückkehrte, er aber aus Scham in der Stadt blieb, schließlich als versoffener Schuhputzer im Hafenviertel strandete und weiter davon träumte, es doch noch zu schaffen und seine Frau und Tochter in die Stadt zu holen.
Auch wenn er die Welt mit den großen staunenden Augen des kleinen Jungen erzählt, für den die Typen aus dem Hafenviertel keine verelendeten Obdachlosen waren, sondern die Helden seiner Wirklichkeit, hat die Darstellung nichts Idyllisches. Gewalt ist allgegenwärtig, die Repression des Duvalier-Regimes entgeht auch dem Kind nicht, die Erschießung von Aufständischen, bei der selbst die Grundschüler/innen der Hauptstadt mit ihren Lehrer/innen erscheinen müssen, wird zu einem traumatischen Erlebnis. Aber trotz allem erinnert sich der Erzähler mit großer Wehmut an seine ersten Lebensjahre in Port-aux-Crasses und vermittelt dies auch den Leser/innen. In wohl keiner anderen Region werden so viele faszinierende Romane über die verlorene Welt der Kindheit geschrieben wie in der englisch- und französischsprachigen Karibik. Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi ist einer der schönsten.