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Anthony Phelps

Die verzauberte Schaufensterpuppe

„Mit seinen 81 Jahren schreibt Anthony Phelps so kraftvoll, lebendig und frisch, dass ihn mancher junge Autor darum beneiden könnte.“ Lactualité.com

Inhalt

Vater und Sohn betrachten in einer „Überraschungsschachtel“ für zehn Centime eine Revolution. Ein Freiheitskämpfer kehrt in sein Land zurück, „in dem es nichts Giftiges gibt außer dem Menschen, gewissen Menschen“, und wird von seinen Erinnerungen und der Miliz des Präsidenten zu Tode gehetzt. Ein Mann wird irrtümlich ins Gefängnis geworfen und wechselt dort seine Identität. Ein Nachtwächter vertreibt sich die Einsamkeit mit einer verzauberten Schaufensterpuppe …

Zehn poetische Erzählungen, in denen Anthony Phelps die Grenzen zwischen Imaginärem und Wirklichem virtuos verschwimmen lässt.

Autorenportrait

Anthony Phelps, Lyriker, Prosaautor, Journalist und bildender Künstler, geboren 1928 in Port-au-Prince, kann als lebender Klassiker Haitis gelten. Er war Mitbegründer der Gruppe Haïti Littéraire, die der haitianischen Literatur wichtige Impulse verlieh. Als Gegner Duvaliers musste er 1964 ins Exil nach Montreal gehen, wo er noch heute lebt. Sein umfangreiches Werk umfasst u. a. das Kultbuch Mon pays que voici (1968), eine lyrische Hymne an seine Heimat. Auf Deutsch erschienen bei Litradukt bereits Der Zwang des Unvollendeten (2015) und Wer hat Guy und Jacques Colin verraten? (2016).

Leseprobe

Die verzauberte Schaufensterpuppe

Schnell betrat der alte Mann sein Zimmer, hängte den großen Schlüssel, der an seinem Gürtel baumelte, an der Tür auf, schleuderte seine Schirmmütze auf das Bett und stürzte ganz aufgeregt zum großen Tonbandgerät, das neben dem Bewegungsmelder thronte, dessen vier Kontrolllampen, verbunden mit den verschiedenen Abteilungen der Fabrik, ein grünliches Licht in den Raum warfen. Hektisch schaltete er das Gerät ein. Sobald dieses zu knistern begann, rief er:
»Mach ein Schiff!«
»Was für einen Schiffstyp?«, fragte das Tonbandgerät.»Genauer bitte. Einen Ozeandampfer? Ein Frachtschiff? Einen Flugzeugträger?«
»Ganz egal«, antwortete der alte Mann. »Mach ein Schiff. Ein Schiff! …«
»Ganz egal was für eins? Gut, dann ein kleines Schiff.«
Es ahmte die Geräusche eines Küstendampfers nach, und während das Töfftöff des Motors und die Tuuut-Tuuut der Sirene den Raum erfüllten, richtete sich der alte Mann auf, ordnete seine Kleidung, setzte ein härteres Gesicht auf, verschaffte sich eine hochherrschaftliche und theatralische Pause. Die Geräusche rückten sanft in den Hintergrund, und das Tonbandgerät schmetterte mit ernster Stimme heraus:
»Volk, sei gegrüßt! … Versammelt Euch! Hier ist der Große Kapitän Aufrecht-auf-der-Wacht, der seine fernen Länder besucht. Er hat fünfzigtausend Kilometer zurückgelegt, um euch einen Besuch abzustatten, kommt, euren Wohltäter willkommen zu heißen. Diesen Fluss, der durch euer Land fließt, hat er schiffbar gemacht. Ihr wart müßig, heute habt ihr dank seiner eine Arbeit, die euch beschäftigt. Er hat euch gelehrt, dem schlechten Wetter zu trotzen, und euch die Wohltaten der Zivilisation gebracht. Kommt den großen Kapitän Aufrecht-auf-der-Wacht zu begrüßen und ihm zuzujubeln.«
Aus dem Magnetophon ertönten Geschrei und Vivatrufe mit Trommeln als Hintergrund, und der alte Mann nahm den Applaus entgegen, ohne eine Miene zu verziehen. Das Gerät verlangte Ruhe.
»Jetzt«, sagte es, »wird der Große Kapitän Aufrechtauf-der-Wacht das Wort an euch richten.«
Der alte Mann öffnete die Arme zu einer einladenden, väterlichen Geste.
»Meine lieben Mitbürger«, rief er, »es ist mir eine große Ehre und ein großes Glück, mich mit …«
»Nein! … das geht nicht mehr!«, unterbrach das Tonbandgerät. »Heute Abend habe ich die Nase gestrichen voll!«

Mitten im Schwung angehalten, stammelte und hustete der alte Mann, bevor er protestierte:
»Was ist los? Warum hast du mich unterbrochen, Magneto?«
»Weil ich nicht mehr mitspiele. Ich bin erschöpft.«
»Du kannst aber doch all diesen Leuten, die sich aufgemacht haben, um mich zu hören, diese Worte nicht vorenthalten, die ihnen Mut machen, ihre Kräfte verdreifachen und ihre Produktion erhöhen sollten.«
»Oh! Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Du sprichst eben morgen zu ihnen. Ich bin heute Abend erschöpft.«
»Erschöpft! Erschöpft!«, schrie der alte Mann, »Wo wir doch weder zu den Fragen und Antworten, noch zu den Litaneien, noch zum König, noch zum Herrn Generaldirektor gekommen sind. Noch zum Werkmeister, noch …«
»Neinneinnein, ich hab‹s dir schon gesagt, der Werkmeister kommt nicht in Frage. Der König, der Generaldirektor, meinetwegen. Aber der Werkmeister, niemals, nie mehr.«
Es begann, mit hoher hämischer Kopfstimme den Werkmeister zu imitieren:
»Volltrottel! Ihr könnt noch nicht einmal einen Pinsel halten. Nach all der Zeit! Ich ziehe euch einen Tag Lohn ab, weil ihr diese Puppen verpfuscht habt.«
Das Tonbandgerät änderte erneut seine Stimme. Es war zwar immer noch die schrille Stimme des Werkmeisters, diesmal aber in einem süßlichen, unterwürfigen Tonfall:
»Guten Tag, Herr Generalkontrolleur. Wie geht es Ihnen? Sie sehen, ich habe Ihre Anweisungen strikt befolgt. Und alles läuft, wie Sie es vorgesehen haben. Unsere Produktion hat sich um fünfzehn Prozent gesteigert. Sie sind ein Genie, Herr Generalkontrolleur. Und die Fabrik fühlt sich geehrt, einen Mann Ihres Kalibers zu besitzen.«
»Genug, genug!«, antwortete der kleine Mann, der die Rolle des Generalkontrolleurs zu spielen begann. »Wir wollen doch nichts übertreiben.«
»Ich versichere Ihnen, ich übertreibe überhaupt nicht. Ich bleibe noch hinter der Realität zurück.«
»Schon gut. Überwachen Sie die Arbeiter weiter. Sie sollen produzieren. Ohne Unterlass produzieren. Wir können uns nicht erlauben, Leute für Untätigkeit zu bezahlen.«
Es herrschte einen Moment lang Stille im Zimmer. Der alte Mann wartete auf die Entgegnung des Werkmeisters, die nicht erfolgte. Er beugte sich zum Tonbandgerät.
»Hast du nun das Gedächtnis verloren?«, fragte er.
»Ganz und gar nicht. Ich bin es einfach nur leid, den Werkmeister zu spielen. Diesen Kriecher, diesen Schmeichler … Ich brauche bloß daran zu denken, schon brennen mich meine Glühfäden. Im Übrigen hab’ ich es dir gesagt, ich bin erschöpft. Ich muss mich erholen, wenn wir in diesem Tempo jeden Abend spielen, werden nächste Woche alle meine Strahler aus sein. Außerdem kommst du gerade erst an und stürzt dich bereits auf mich, um mich in Gang zu setzen. Das ist kein Spiel mehr, das ist ein Laster. Ein Laster! Arbeit wartet auf dich. Mach zuerst Licht im Zimmer, und richte dich für die Nacht ein. Du hast nicht einmal dein Bett zurechtgemacht, und die Kaffeekanne wartet darauf, von dir gefüllt zu werden. Los, an die Arbeit. An die Arbeit! …«
»Gut, gut, in Ordnung«, sagte der alte Mann gekränkt.
Er knipste die Deckenleuchte an, nahm die bauchige Kaffeekanne, die auf dem Tisch stand, und während er sich brummend zur Spüle bewegte, begann er den Kaffee zu bereiten, wobei er wütende Blicke zu dem großen Apparat warf, dessen Schweigen ihn zu provozieren schien.

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