Wie Kettly Mars die verkrusteten Strukturen der haitianischen Gesellschaft im Mikrokosmos des Anwesens der Berniers spiegelt, ist ein beeindruckendes Stück Literatur aus einem Land, das trotz einer Analphabeten-Quote von über achtzig Prozent eine äußerst lebendige literarische Szene unterhält. Die Vielstimmigkeit und die kaleidoskopische Collage sich überlagernder Handlungsstränge prägt bei nicht wenigen Autoren aus Haiti, auch bei Kettly Mars, das Erzählen. Kapitel für Kapitel wechselt sie die Erzählperspektive, verwebt Individuum, Gesellschaft und Vergangenheit zu einem System kommunizierender Röhren und deckt Schicht um Schicht die verborgenen Erinnerungen, verschwiegenen Dramen und Ängste auf. Bis zum Ende wird das Schweigen nicht gebrochen, doch immerhin scheint die Rückkehr des kranken Alexandre eine emotionale Erstarrung zu lösen. »Ich bin am Leben« – das sind die einzigen Worte, die Kettly Mars am Ende des Romans dem schizophrenen Alexandre in einem klaren Moment in den Mund legt. Sie lässt damit ein ganzes Volk sprechen, das sich ungeachtet aller Unglücke und Rückschläge die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht nehmen lässt.
Das Umgehen mit den eigenen Gefühlen, die Konfrontation mit Erinnerungen und Familiengeheimnissen macht diesen Roman zu einem spannenden, von Psychologie getragenen Leseerlebnis, das Fragen aufwirft. Durch das multiperspektivische Erzählen und die vielen verschiedenen Blickwinkel, aus denen die Figuren ihre inneren Monologe führen, ist Kettly Mars ein vielschichtiges, fein gesponnenes soziales Netz gelungen, in dem große Themen wie die Fremdheit im Eigenen und die Frage nach der Norm – was heißt Verrücktheit? – und auch gesellschaftliche Tabuthemen wie Inzest und Schuld diskutiert werden. Jedes Familienmitglied offenbart seine Sicht auf Alexandre; so entsteht ein komplexes Bild einer zerrissenen Familie, die sich nach und nach wieder zusammensetzt: nach Madame Mars kann nur Einheit den kollektiven Schmerz überwinden.