Der Horizont, die Linie, an der »Himmel und Erde zusammenkommen«, ist nicht selten Projektionsziel von Träumen und Hoffnungen; das ist weltweit so. Louis-Philippe Dalembert hat diese Empfindung zum Ausgangspunkt seines Romans Jenseits der See gemacht und seine Erzählung von genauen geographischen Koordinaten befreit. Weder Zeit noch Ort werden in diesem Roman, der doch eindeutig die Zeitgeschichte Haitis wiedergibt, beim Namen genannt.
Die indirekte Art, von einem und vielen Orten gleichzeitig zu erzählen, gibt dem Roman […] seinen überzeugenden und außergewöhnlich kraftvollen Ton. Auch die Erzählerin Grannie, die rückblickend ihren Lebensweg nachzeichnet, ist in dieses Konzept subtiler Verallgemeinerung eingebunden. Die klar denkende, dem Tod entgegengehende Großmutter übermittelt ganz im Sinne der in Haiti noch präsenten mündlichen Erzähltradition historische Erfahrung als erlebte Wahrheit und verbindet diese mit ihrer Lebensweisheit. Am eigenen Leib hat sie die Geschichte Haitis erlebt, die Narben von der Flucht zurück über den »Massakerfluss« trägt sie noch an ihrem Körper. […]
Die Sehnsucht in die Ferne, die zu Beginn geschildert wird, ist nicht nur ein Jugendtraum der Ich-Erzählerin. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch den aus vier Erzählebenen zusammengefügten Roman. […] In der Erzählpassage Die Stadt, die nun aus der Perspektive von Grannies Enkel Jonas geschildert wird, rücken die Ereignisse nah an die Gegenwart heran. Jonas erlebt hautnah die zunehmende Verrohung des Volkes. […]
Schritt für Schritt zeigt Dalembert, der in Paris Journalismus und Literatur studiert hat, wie sich Haiti innerhalb der Lebensphase einer Person verändert hat. Die Kontraste, die zu Beginn der Erzählung und zum Ende hin sichtbar werden, sind ein erschütterndes Zeugnis von der Zerstörung dieser Gesellschaft.
In Jenseits der See, dem zweiten Roman Dalemberts, geht es um Migration – gewaltsam erzwungene oder (vermeintlich) freiwillige. Seit im 16. Jahrhundert die ersten Schwarzen aus Westafrika deportiert und zur Zwangsarbeit auf die Insel Hispaniola verfrachtet wurden […], sind die Haitianer/innen ein Volk von Migrant/innen. […]
Im ersten und letzten der drei Oberkapitel von Jenseits der See erzählen die Großmutter Grannie und der Enkel Jonas die Geschichte ihrer Familie, etwa seit dem Jahr 1937. Damals entschied Grannies Vater, mit seiner Familie auf die andere Seite des Gebirges (in die Dominikanische Republik) zu gehen. Die elenden Arbeits- und Lebensbedingungen auf den Zuckerrohrplantagen des Nachbarlandes […] führen schnell zur Desillusionierung. Doch bevor sich die Familie Gedanken über die Zukunft machen kann, beginnen die Massaker. Wie Tausende andere fliehen sie Hals über Kopf in Richtung Haiti. […] Zurück in Haiti geht es ihnen zunächst ganz gut, doch im Laufe der Zeit wird die Duvalier-Diktatur immer unerträglicher. Immer mehr Leute verlassen das Land, obwohl die Ausreise ein gefährliches Unterfangen ist. […]. Das Weggehen so vieler zerreißt Familien und Beziehungen. Grannie verfolgt den Exodus ihrer Verwandten und Nachbarn voller Trauer. Jonas fällt in tiefe Verzweiflung, weil auch seine große Liebe Maité Haiti in Richtung USA verlässt. […]
Neben den Berichten der Großmutter Grannie und ihres Enkels Jonas hat das Buch noch zwei weitere Ebenen. Im vergleichsweise kurzen Mittelkapitel schildert ein Erzähler einen Tag im Leben des erwachsenen Jonas im Port-au-Prince der Jetztzeit, das von Gewalt und Verzweiflung geprägt ist. Zudem wird in Einschüben, die das gesamte Buch durchziehen, ohne Punkt und Komma die Überfahrt eines Sklavenschiffes von Afrika nach Saint Domingue geschildert, […]. Jenseits der See verlangt den Leser/innen einiges ab. Aber es lohnt sich! […]
Dalembert ist ein großartiger Erzähler, der seine Themen in packenden Geschichten verarbeitet. Er will die Leser/innen nicht schockieren, Gewaltdarstellungen, vor allem in Jenseits der See, sind kein Selbstzweck, sondern Ausdruck der brutalen Realität, mit der die Haitianer/innen konfrontiert sind. Für mich ist Dalembert die literarische Entdeckung der letzten Jahre. Ich empfand Jenseits der See als das stärkste der bislang übersetzten Bücher.
Moderatorin: Haben Sie schon einmal ein Buch aus Haiti gelesen? Wahrscheinlich nicht, oder doch? Haitianische Literatur gibt es in Deutschland kaum; nur ein kleiner Verlag kümmert sich intensiv um Literatur aus Haiti, und das ist der litradukt-Verlag aus Kehl. Er bringt seit einigen Jahren außergewöhnlich gute und auch außergewöhnlich gut übersetzte haitianische Bücher heraus, die meistens auf Französisch geschrieben wurden. Louis-Philippe Dalembert ist einer dieser Autoren, und von ihm liegt nun ein neuer Roman vor. Er heißt Jenseits der See, und davon handelt er auch. Von der ewigen Unruhe der Haitianer, die ja fast alle von afrikanischen Sklaven abstammen, und ihrer unstillbaren Sehnsucht nach einem Land hinter dem Wasser. Früher war das Afrika, heute sind es die USA. Dalembert erzählt zwei Geschichten. Die der Großmutter Grannie, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Port-au-Prince aufwächst, und die ihres Enkels Jonas. Und wenn man es genau nimmt, erzählt Dalembert sogar noch eine dritte Geschichte, denn fünfzehn Mal fügt er, sprachlich und grafisch abgesetzt, kurze Schilderungen aus den Bäuchen der Schiffe ein, in denen vor gut dreihundert Jahren Afrikaner wie Vieh in die Neue Welt geschafft wurden. Jenseits der See ist ein harter aber guter Roman, urteilt unsere Kritikerin Gaby Mayr.
Sprecherin: […] Haiti war das erste Land, das seine Unabhängigkeit nach einer Revolution von Sklavinnen und Sklaven erlangte, die aus Afrika in die Karibik verschleppt worden waren. Das war im Jahr 1804. Die Sklaverei spielt auch eine wichtige Rolle im Roman Jenseits der See des haitianischen Schriftstellers Louis-Philippe Dalembert: […]
Die in 15 kurze Stücke zerlegte Beschreibung eines Sklaventransportes über den Atlantik ist in die eigentliche Romanhandlung eingefügt. Es sind streng durchkomponierte Passagen, ohne Zeichensetzung, in Kleinschreibung, ohne dass die Menschen einen Namen oder ein Gesicht bekämen – eine Chronologie des Grauens. […]
Haitianische Literatur nimmt häufig Bezug auf die Sklaverei – das ist kaum überraschend, denn die meisten Bürgerinnen und Bürger des Landes sind Nachfahren von Sklaven. […] Die eigentliche Handlung des Romans Jenseits der See ist mehr als einhundert Jahre nach der erfolgreichen Revolution, also im 20. Jahrhundert angesiedelt. Der Atlantik spielt – wie beim Sklaventransport – eine wichtige Rolle. Denn Haiti liegt auf der Karibikinsel Hispaniola, wo Columbus einst landete. Tausende Kilometer Ozean trennen Haiti von Europa und Afrika. Zum amerikanischen Kontinent ist es dagegen nur ein Katzensprung. […]
Grannie, die Großmutter, hat Fernweh. Ein Fernweh, das sie schon als Mädchen kannte. Der Autor Louis-Philippe Dalembert folgt Grannies Leben durch die Jahrzehnte: Bei ihren Erinnerungen schimmert bisweilen Wehmut durch, Trauer über die vielen Menschen, die Haiti den Rücken gekehrt haben. Meist aber erscheint sie als tatkräftige Frau, der Schalk sitzt ihr im Nacken. Dalembert gelingt es allerdings nicht durchweg, die Großmutter glaubhaft zu zeichnen: Er vergisst schon mal, dass seine Protagonistin eine alte Frau ist und es nicht passt, wenn sie denkt und redet wie ein Kerl.
In einem kurzen Mittelteil begleitet der Autor ihren Enkel Jonas bei einem Gang durch die verrottete, Gewalt geladene Stadt. Mit enormer sprachlicher Intensität verleiht Louis-Philippe Dalembert dem Verfall und Ekel Ausdruck: […]
Im letzten Teil des Romans übernimmt Jonas die Rolle des Erzählers. Die Motive Abschied und Verfall, die wir schon von der Großmutter kennen, bekommen bei dem jungen Mann einen bittersüßen Klang, wenn er vom Aufblühen und dem Ende seiner ersten Liebe erzählt. Aber auch bei Jonas ist der Autor nicht konsequent bei der Gestaltung seiner Figur: Wenn der Junge über Ehefrauen und Mätressen sinniert, klingt das doch sehr nach einem allzu bekannten Motiv männlicher Schriftsteller aus dem südlichen Amerika. Unverändert bleibt bei Oma und Enkel der Blick aufs Meer – die Blickrichtung jedoch ändert sich: Man schaut nicht länger nach Afrika und Europa, sondern nach Nordamerika, wo viele Haitianer ihr Glück suchen.
Die lebensnahen Szenen aus dem haitianischen Alltag voller Armut und politischer Unterdrückung – die immer spürbar ist, ohne dass die Schergen der Macht jemals leibhaftig auftreten – mündet schließlich in eine apokalyptisch-fiktive Massenflucht von Hunderttausenden übers Meer Richtung Westen. Aber das Land der Träume lässt seine Truppen gegen die Habenichtse aufmarschieren: […]
Jonas’ Vorfahren kamen in Sklavenschiffen übers Meer, Jonas wird sein Geburtsland übers Meer verlassen. Haiti ist kein Ort zum Bleiben – daran lässt Louis-Philippe Dalembert in seinem packenden, aber alles andere als leicht verdaulichen Roman »Jenseits der See« keinen Zweifel.