Mit der von ihrer Großmutter Victoire geerbten Leidenschaft für das Kochen als rotem Faden setzt Maryse Condé die Reihe ihrer autobiografischen Bücher fort. Auch dieses Buch erzählt von einer Rebellion: „Nur Dummköpfe begeistern sich fürs Kochen“, bekommt Maryse als Kind von ihrer Mutter zu hören, die nicht verstehen kann, warum das intelligente Mädchen so gern der Köchin der Familie zur Hand geht. Und auch die Freunde der Bestsellerautorin sind mitunter schockiert, dass eine intellektuelle Frau sich der Kochkunst ebenso leidenschaftlich widmet wie der Literatur. Maryse Condé zelebriert ihre „Majestätsbeleidigung“ umso genüsslicher und nimmt den Leser mit auf ihre Reisen nach Indien, Südafrika, Japan und in andere Länder. Kulinarische Entdeckungen und Erinnerungen sind dabei Anknüpfungspunkte für Reflexionen über politische, soziale und kulturelle Probleme, bieten Anlass für die kritische Auseinandersetzung mit eigenen Ansichten, Hoffnungen und Enttäuschungen. Wie in Mein Lachen und Weinen oder Victoire erzählt Maryse Condé voll Humor und menschlicher Wärme und bettet das persönliche Erleben immer in die großen Zusammenhänge ein. Nicht zuletzt erfährt der Leser einiges über die Entstehungsgeschichte zahlreicher bekannter Werke. Nicht nur für Fans von Maryse Condé eine interessante Lektüre.
Maryse Condé
Köstliches und Kostbares. Kulinarische Reisen
Inhalt
Autorenportrait
Leseprobe
- LEHRJAHRE: VOM FLANKOKO ZUM CHRISTMAS PUDDING
An meine Kindheit habe ich nur bittersüße Erinnerungen. Alles wurde durch das Prisma einer mimosenhaften Empfindlichkeit gebrochen, das den kleinsten Scherz, den leisesten Spott, das geringste Wortspiel zu einer unheilbaren Verletzung bündelte. Die Welt machte mir Angst und ich wähnte an allen Ecken verborgene Gefahren. Mehrmals die Woche hatte ich den gleichen Traum: Ich verließ das Haus, um zwei oder drei Straßen weiter bei Amie Rose, einer Konditorin in unserem Viertel, einige doucelets, Kokosschnitten, zu kaufen. Ich schlich auf Zehenspitzen und war bemüht, keine Aufmerksamkeit zu erregen, denn meine Mutter hatte mir die harmlose Süßigkeit verboten, die angeblich schlecht für die Zähne war. Würde ich weiternaschen wie bisher, mein Lächeln entblößte bald eine Reihe braunschwarzer Zahnstümpfe. Dies hielt mich nicht davon ab, ungehorsam zu sein. Doch kaum hatte ich einen Fuß vor die Tür gesetzt, da bemerkte ich zu meinem Schrecken, dass die Umgebung sich verändert hatte. Die vertrauten stockhohen Häuser waren verschwunden. Die Straße hatte sich in eine Stadtbrache mit starr aufragenden, bedrohlichen Strommasten verwandelt. Auf den Leitungen saßen reihenweise Vögel, wie ich sie später bei Alfred Hitchcock wiedersehen sollte, und durchbohrten mich mit ihrem zornigen Blick. Plötzlich schossen Ungeheuer mit Affenkopf aus dem Boden hervor und stürzten sich auf mich. Blutüberströmt lag ich auf der Erde.
Meine Erziehung war nicht dazu angetan, mich abzuhärten. Während mein Vater keinerlei Interesse an mir zeigte, umgab meine Mutter mich mit einer peniblen, fordernden Fürsorge, die sie keinem anderen meiner sieben Geschwister angedeihen ließ. Genau diese Fürsorge machte sie zu anspruchsvoll, und ich fand vor ihr keine Gnade. Ich war zu groß für mein Alter, meine Haut war zu fahl, meine Augen zu unförmig, mein Haar zu kraus. Ich war Klassenbeste im Aufsatz und im Vortragen, was sie mit Stolz hätte erfüllen können, aber die Schlechteste im Rechnen.
Ich erinnere mich an meine Tränen, wenn ich sie jede Woche aufs Neue das mit Nullen* gespickte Zeugnisheft unterschreiben ließ. Unweigerlich flüchtete ich mich in die Gesellschaft unserer Hausangestellten, die mich im Gegensatz zu meiner Mutter wie das kostbarste Mädchen der Welt behandelten.
[…]
In unserem prächtigen Haus in der Rue Alexandre-Isaac war meine liebste Zuflucht die Küche. Dorthin floh ich, wenn Julie, die auch unsere Wäsche machte, anderweitig beschäftigt war. In der Küche herrschte allzeit ein wüstes Durcheinander. Das Wasserbecken in der Mitte quoll über von eingeweichtem schmutzigem Geschirr. Auf den Fliesen lagen allerlei Backformen, Töpfe und Kessel verstreut. Die Regale bargen eine bunte Fülle von Gewürzen: Safran, Muskat, Zimt, Pfeffer, Cayennepfeffer, Kerbel, Majoran, Piment … Sämtliche Gerüche waberten in dieser Ali-Baba-Höhle durch die Luft. Adélia ließ mich oft die Fleisch- und Fischgerichte würzen.
»Ich verstehe dich einfach nicht«, sagte sie zum wiederholten Male, »du bist Klassenbeste – und dir fällt nichts Besseres ein, als in der Küche herumzuschnüffeln!« Schon damals war ich ein erfinderischer Kopf und erlaubte mir einige Empfehlungen. Man könnte doch, schlug ich vor, in der brandade de mourue die Kartoffeln durch Süßkartoffeln ersetzen. Adélia lachte nur: »Und was soll das werden?« Eines Tages ließ sie mich das Dessert, den flankoko zubereiten. Sorgfältig vermengte ich Wasser, Kondensmilch, Weizen- und Kokosmehl. Doch als ich zwei Löffel alten Rum in den Teig geben wollte, widersetzte Adélia sich entschieden: »In den flan gehört kein alter Rum«, bestimmte sie. Bei Tisch verkündete sie der Familie, dass der Pudding ganz allein mein Werk sei. […] An jenem Abend lobte die gesättigte Familie mich höflich, aber nicht von Herzen. Da kommentierte meine Mutter: »Nur Dummköpfe begeistern sich fürs Kochen.« Hatte sie das wirklich gesagt? Oder war die Bemerkung ein Produkt meiner Fantasie, weil solch ein gnadenloses Urteil gut zu ihrem Charakter passte? Schwer zu sagen. Ihre grausamen, ungerechten und – seien wir ehrlich – einigermaßen dämlichen Worte spuken mir jedenfalls bis heute im Gedächtnis herum. In meinem Buch Victoire unternehme ich einen Erklärungsversuch, indem ich ihre widersprüchlichen Gefühle gegenüber ihrer eigenen Mutter beschreibe, einer hervorragenden, aber analphabetischen Köchin, die sich bei weißen Kreolen verdingt hatte. Es war eine Mischung aus Ehrfurcht und Scham. An jenem Abend war ich nicht in der Lage, meinen Geschwistern in den zweiten Stock zu folgen. Ich ließ sie ohne mich lachen, Kreolisch sprechen und Gitarre spielen, bis mein Vater ihnen zu verstehen gab, dass Schlafenszeit war. Schwungvoll klopfte er mit dem Besenstiel gegen die Decke über seinem Kopf und befahl mit Stentorstimme: »Zapfenstreich, Kinder!«
Ich zog mich auf mein Zimmer zurück und weinte bis in den Morgen hinein. Das Ereignis hielt mich allerdings nicht davon ab, weiterhin um Adélia herumzustreichen. Im Gegenteil, ich wurde mutiger. Geschickt wälzte ich blaue und rosarote Katzenwelse in Mehl, um sie anschließend über einem Holzkohlenfeuer zu grillen. Den Protesten der stocktraditionellen Adélia zum Trotz dachte ich mir einen Grapefruit-Avocado-Salat aus, den ich mit ordentlich Zitronensaft anmachte. Doch seitdem war mir jedes Mal, wenn ich die Küche betrat, als würde ich ein Verbot missachten, ihm zuwiderhandeln – ein Gefühl, das mich einige Jahre später erneut beschleichen sollte, als ich die Jungs zum ersten Mal wie im Film auf den Mund küsste. Mit fünfzehn konnte ich Zicklein-colombo zubereiten, das Nationalgericht von Guadeloupe, das uns die Inder vermacht haben. Adélia konnte ich freilich nie überzeugen. Sie schürzte immer nur die Lippen: »Wie kommst du darauf, Zimt zu nehmen! Zimt hat im colombo gar nichts verloren!« Warum? Wer hatte das entschieden? Ich fand keinen Geschmack an traditionellen Gerichten, deren Rezepte unwandelbar waren, als entstammten sie heiligen Schriften unserer Ahnen. Ich schuf und erfand gern Neues. Während Adélia meine Kreationen nicht zu schätzen wusste, schwärmte ihre Tochter Michelle umso mehr für meine Kochkunst. Eines Tages hatte ich die Anwandlung, Schweinefleisch mit Landkrabben und jungem Spinat zu kombinieren. Adélia war empört und weigerte sich, den scheußlichen Mischmasch zu probieren: »Was ist denn das für ein Schweinefraß?« Michelle und ich schlugen uns hingegen den Bauch voll – Michelle verstieg sich sogar zu der Behauptung, sie habe nie im Leben etwas Besseres gekostet.