Literatur aus und über Haiti hat es schwer im deutschen Sprachraum, wo die Frankophonie als Brücke fehlt. […] Nur wenige wissen, dass Haiti die zweitälteste Republik Amerikas ist, wo, anders als in den Vereinigten Staaten, nicht Kolonialherren, sondern Sklaven ihre Freiheit und Unabhängigkeit erkämpften. […]
Wer sich aus erster Hand informieren möchte, der findet in den von Peter Trier übersetzten Büchern des litradukt-Verlags reiches Anschauungsmaterial. Aus der auf mehrere Titel angewachsenen Buchreihe seien hier zwei herausgegriffen. Und wenn Haiti den USA den Krieg erklärt? von Georges Anglade ist eine brillante Politsatire, die auf der ebenso verblüffenden wie einleuchtenden Idee beruht, unter Haitis Kontinentalschelf würden ergiebige Ölvorkommen entdeckt, die den Habenichts über Nacht zum Zankapfel der Weltpolitik machen. Das Ganze ist nur ein Bluff, um Washington zu militärischem Eingreifen zu bewegen, damit, ähnlich wie im Irak und anderen Aggressionszielen, ein Geldsegen auf Haiti niedergeht. […]
Georges Anglade ist gelernter Geograph und war Minister unter Jean-Bertrand Aristide, den er nach dessen Sturz ins nordamerikanische Exil begleitete. Der Autor kennt sich aus in den Kulissen der Politik und karikiert die Schwächen der Mächtigen mit ins Schwarze treffendem Humor: […]. Dass die Sache nicht gut enden wird, ist von der ersten Seite an klar, aber die abstrusen Verwicklungen und der hanebüchene Höhepunkt, auf den der Konflikt zusteuert, sollen hier nicht verraten werden.
Und wenn Haiti den USA den Krieg erklärt? ist nicht allein wegen seines satirischen Inhaltes eine Freude zu lesen, sondern gerade auch, weil Anglade es […] versteht, dem Leser Haiti ein Stück weit näher zu bringen. Es gibt einiges über dieses Land zu lernen, wie man bei der Lektüre feststellt, und nicht unwahrscheinlich ist, dass dieses Buch dazu anregt, sich auch nach dem Lektüreende genauer mit Haiti zu beschäftigen.
Und wenn Haiti den USA den Krieg erklärt? ist ein sehr unterhaltsames, kurzweiliges, zugleich jedoch auch ernstes, informatives und anspruchsvolles Buch, für das eine unbedingte Leseempfehlung ausgesprochen werden kann.
Sprecher: »Eine Handvoll Schwarze auf einem Felszipfel« – so beschreibt Georges Anglade seine karibische Heimat Haiti. 27 750 Quadratkilometer Elend, vom Meer umspült, vom Pech verfolgt und von der Welt bedauert. Besser werden kann es nur durch eine tollkühne Idee des Schriftstellers: Der Felszipfel Haiti erklärt den Vereinigten Staaten von Amerika den Krieg. […]
Es zeichnet gute Satire aus, dass der abwegigste Gedanke auf einmal nicht mehr absurd erscheint, sondern viel aussagt über seinen Gegenstand. Aus der Überzeichnung wird eine scharfe Zeichnung. Der Zeichner der USA-Satire und anderer kunstvoller Geschichten ist ein Mann, der beeindruckt. Von schwerer Gestalt, mit einem weißen Vollbart und ganz in schwarz gekleidet, sieht Georges Anglade aus wie ein Priester. Der 65-jährige lacht viel und holt zu großen Gesten aus, ganz der übersprudelnde Geschichtenerzähler. Seit 40 Jahren lebt Anglade in Haiti und Kanada und analysiert aus dieser doppelten Perspektive die Lage auf der Insel:
Georges Anglade: Katastrophal, weil das Land schlecht regiert ist. Allen Anstrengungen zum Trotz wird es zur Explosion kommen. Wir haben heute das gleiche Bevölkerungsverhältnis wie zur Zeit der Sklaverei: 99,5 Prozent der Haitianer sind so arm, dass es schon keine Armut mehr ist, sondern Elend. Und dann gibt es die anderen 0,5 Prozent – aber verzeihen Sie, ich sehe die Dinge wieder aus einer politischen und wissenschaftlichen Sichtweise und nicht mehr aus einer literarischen. Aber zwischen diesen zwei Sichtweisen habe ich noch nie getrennt.
Sprecher: Anglades Lebensmotto stammt von Antonia Gramsci, es ist eines Haitianers würdig: Pessimismus des Verstandes – Optimismus des Willens. Als Professor für Sozialgeografie erforscht Anglade die Struktur eines Landes, dessen komplette Mittelschicht ins Exil gegangen ist. Als Politiker verfasste er ein Manifest für einen demokratischen Aufbruch und diente als Minister, und als Autor schreibt er für eine Insel, auf der jeder zweite Erwachsene nicht lesen kann.
Seine Geschichten erzählt Anglade in der jahrhundertealten Tradition lodyans, eine Verballhornung des französischen audience – Publikum. Es ist die Erzählkunst der kleinen Leute, wenn sie sich bei Einbruch der Nacht vor dem Haus versammeln und einem der ihren zuhören. Wie kleine Landkarten skizzieren die Geschichten die wesentlichen Züge eines viel größeren Gebietes, farbenfrohe Miniaturen voller Wahrheit, Humor und Sprachwitz. Als die Familiendiktatur der Duvalier 1957 für drei Jahrzehnte an die Macht kam, war es vorbei mit den Erzählungen.
Georges Anglade: Die Geschichtenerzähler waren die Ersten, die man zum Schweigen gebracht und getötet hat. Die lodyans ist eine Erzählkunst, die keinen Menschen und keine Klasse verschont und die auch von den Eigenheiten der Herrschenden erzählt hat. Aber diese Minderheit hasste es, dass man über sie sprach und lachte. Die lodyans-Geschichten, die waren Dynamit: Subversive verspielte Erzählungen über Dinge, die nur vermeintlich für sich selbst stehen.
Sprecher: Die Geschichte dieser Erzählkunst ist die Geschichte der Insel selbst. Die Haitianer sind ein aus der Sklaverei geborenes Volk, zusammengeraubt aus allen Kulturen Afrikas. Auf den Zuckerrohrplantagen entstand die Sprache Kreolisch, die Religion Voodoo – und die Erzählkunst lodyans.
Zwei lodyans-Bücher von Anglade sind auch in Deutschland erschienen, seine Satire Und wenn Haiti den USA den Krieg erklärt? und sein wunderschöner Erzählband Das Lachen Haitis. Dieses Lachen, sagt Anglade, sei der Schlüssel zur lodyans und zum Verständnis einer leidgeprüften Insel:
Georges Anglade: Ich sah Leute aus dem Verhörgefängnis kommen, und sie haben gelacht. Es ist ein Lachen, das schon die Sklaven hatten. Die Haitianer schaffen so eine große Distanz zu sich selbst und den Dingen, die ihnen widerfahren. Dieses Lachen ist unsere Erzählhaltung – es macht sich gleichzeitig über die Geschichte lustig und über den, der sie erzählt. Aus diesem Geist entstand unsere Erzähltradition, das Lachen Haitis. In unserer derzeitigen Lage gibt es eigentlich überhaupt keinen Grund zu lachen. Und trotzdem lachen alle.
“Und wenn Haiti den USA den Krieg erklärt?” – um nämlich die USA für die durch die bewaffnete Auseinandersetzung entstandenen Schäden verantwortlich zu machen und den “Wieder”aufbau der Infrastruktur nach dem Muster des Irak einzufordern – ist eine bitterböse Satire, die den Haitianern den Spiegel vorhält und uns ein wenig Einblick in das tiefe Gestrüpp der politischen Un-Möglichkeiten gewährt.