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Maryse Condé

Victoire

»Brillant und reichhaltig.« The New York Times
»Glänzend übersetzt, unterhaltsam und lehrreich.« Joseph Hanimann, FAZ

Inhalt

Maryse Condé, Bestellerautorin der 80er Jahre, meldet sich mit der Geschichte ihrer Großmutter zurück. Victoire Quidal wächst Ende des 19. Jahrhunderts auf Guadeloupe in einer armen Familie auf. Obwohl sie nie lesen und schreiben lernt und nur kreolisch spricht, legt sie als talentierte Köchin den Grundstein für den sozialen Aufstieg ihrer Nachkommen.

Der faszinierende Lebensweg einer Frau in einer rassistischen und machistischen Gesellschaft und ein Sittengemälde der französischen Karibik zur Kolonialzeit.

Autorenportrait

Maryse Condé, eine der wichtigsten Autorinnen der Frankophonie, wurde am 11. Februar 1937 in Pointe-à-Pitre auf Guadeloupe geboren. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaften an der Sorbonne und promovierte über Stereotypen von Schwarzen in der karibischen Literatur. Anschließend lebte sie in Afrika, unter anderem in Mali, wo sie zu ihrem Bestseller Segu angeregt wurde. 1993 erhielt sie als erste Frau für ihr Gesamtwerk den Puterbaugh-Preis. Sie lebt abwechselnd auf Guadeloupe und in New York, wo sie an der Columbia University lehrt. 2018 wurde ihr für ihr Gesamtwerk der alternative Nobelpreis verliehen.

Leseprobe

Sie starb einige Jahre nach der Hochzeit meiner Eltern, bei meiner Geburt war sie schon recht lange tot.

Ich kenne von ihr nur eine sepiafarbene Fotografie von Cattan, dem besten Fotografen der damaligen Zeit. Sie stand auf dem Klavier, auf dem ich meine Tonleitern übte; die Frau, die darauf zu sehen war, trug ein Kleid mit breitem Spitzenkragen, das sie wie ein Schulmädchen aussehen ließ. Ein Eindruck, der durch ihre zierlichen Formen noch verstärkt wurde. Ihre winzigen Füße steckten in Lackschuhen mit Spangen wie bei einer Erstkommunikantin. Um ihren zarten Hals lag eine sogenannte grenn-d’ò-Kette aus Goldperlen. Wie alt war sie? War sie hübsch? Ich hätte es nicht zu sagen vermocht. Jedenfalls blieb der Blick an ihr haften und konnte sich nicht wieder von ihr lösen.

Eines Tages, ich war sieben oder acht Jahre alt, hielt ich es nicht mehr aus:

»Mama, wie hieß Omama?«

»Victoire Élodie Quidal.«

Der Name erfüllte mich, die den Klang des eigenen Namens bedauerte, mit Bewunderung. Ich hasste vor allem meinen Vornamen, den ich läppisch fand. Maryse, die kleine Marie? Dieser Name war dagegen schwer wie eine bronzene Medaille. Volltönend. Ich insistierte:

»Was hat sie gemacht?«

»Sie hat sich verdingt.«

Vor Verblüffung setzte ich mich auf.

»Meinst du, sie war … ein Dienstmädchen?«, fragte ich ungläubig und voll Bedauern.

Meine Mutter drehte sich zu mir um:

»Ja, sie war Köchin.«

»Köchin!«, rief ich aus.

Das war der größte Witz. Meine Mutter die Tochter einer Köchin. Sie, die keinen Geschmackssinn hatte und die notorisch unfähig war, auch nur ein Ei zu kochen. Während unserer Aufenthalte in Paris lebten wir wochentags aus Dosen und machten sonntags die Restaurants unsicher.

»Eine unvergleichliche Köchin«, sagte meine Mutter emphatisch. »Sie hatte die Hand eines richtigen Chefkochs.«

»Ich will auch Köchin werden«, antwortete ich eifrig und hingerissen.

Der Gesichtsausdruck meiner Mutter verriet mir, dass ich auf dem Holzweg war. Sie erzog mich nicht, damit ich Köchin wurde, auch keine Spitzenköchin. Ich lenkte hastig vom Thema ab: »Hat sie dir nichts beigebracht, kein Rezept?«
Sie fuhr fort, ohne die Frage zu beantworten:

»Sie hat zuerst in Grand-Bourg bei Verwandten, der Familie Jovial, gearbeitet. Das ist schlecht ausgegangen, sehr schlecht. Dann … dann ist sie nach La Pointe gegangen und hat sich bis zu ihrem Tod bei weißen Kreolen, der Familie Walberg, verdingt.«
»Bei ihnen bin ich aufgewachsen«, fügte sie hinzu. Meine Verblüffung wurde immer größer. Die Wirklichkeit übertraf die Fiktion. Diese Frau, die schon eine noiriste war, als es das Wort noch gar nicht gab, sollte bei weißen Kreolen aufgewachsen sein! Wie war das möglich? Ich versuchte, klarer zu sehen:

»Dann war sie also nie verheiratet? Wer war dein Vater?«

Dieses Gespräch mag erstaunen. Einen Vater zu haben, von ihm anerkannt zu sein und sein Leben zu teilen bzw. einfach seinen Namen zu tragen, war damals jedoch nur einigen wenigen Privilegierten vorbehalten. Ich war keineswegs schockiert darüber, dass meine Eltern wie so viele andere aus einer Art Nebel hervorgekommen waren. Mein Vater,­ eine unverbesserliche Plaudertasche, behauptete, sein Vater sei auf der Suche nach dem Gold von Paramaribo nach Holländisch Guyana gegangen und habe seine Mutter mit ihrem Baby an der Brust auf dem Morne à Cayes zurückgelassen. […]

Meine Mutter faltete ihre Handarbeit zusammen:

»Ich habe jetzt keine Lust über all das zu sprechen. Es ist zu schmerzlich. Ein andermal vielleicht. Geh deine Lektionen lernen.«
Versteinert verließ ich das Zimmer.

Natürlich kam dieses »andere Mal« nie. Das Gespräch wurde nie fortgesetzt. Meine­ Mutter enthüllte mir nie, wer ihr Vater war und unter welchen Umständen sie auf die Welt gekommen war. Dennoch ging mir diese Unterhaltung nicht mehr aus dem Kopf. An diesem Tag wurde vermutlich mein Entschluss geboren, Nachforschungen über ­Victoire Quidal anzustellen. Aber mein Leben verlief so überstürzt. Ich ließ Jahr um Jahr verstreichen. Manchmal wurde ich nachts wach und sah sie wie ein Vorwurf, so ganz anders als das, zu dem ich wurde, in einer Ecke des Zimmers sitzen. Ihr Bild ist unscharf, schwierig zu fassen. Für die einen war sie schön, für die anderen blass und hässlich. Für manche war sie ein unterwürfiges Geschöpf, eine Analphabetin, die es nicht wert war, dass man sich für sie interessierte. Für andere ein regelrechter Machiavelli im Rock. Meine Mutter sprach von ihr in den abgegriffenen, klischeehaften Redewendungen der Antillen, die nichts mehr bedeuten:

»Sie konnte weder lesen noch schreiben, aber sie war ein richtiger poto-mitan. Eine Matadorin.«

Ganz bestimmt nicht! Sie war kein poto-mitan. Dennoch gelang es ihr mit den kärg­lichen Mitteln, über die sie verfügte, für ihre Tochter die Tore der entstehenden schwarzen Bourgeoisie aufzubrechen.

War das letzten Endes die Mühe wert?

Das ist die Frage, die ich mir unaufhörlich stelle. Die Fähigkeit zu leiden und sich zu quälen, die meine Mutter in so reichem Maße besaß und die sie an uns alle weitergab, rührt von ihr her. Die Einsamkeit und Abgeschlossenheit, zu der Victoire sie während ihrer Kindheit in guter Absicht verdammte, übten einen beträchtlichen Einfluss auf ­ihren Charakter und ihr Verhalten aus, nicht nur bei ihr, sondern auch bei ihren Nachkommen.

Das Porträt, das mir zu zeichnen gelang, liefere ich hier so ab, wie es ist, und ganz gewiss, ohne mich für seine Unparteilichkeit oder auch nur für die Richtigkeit der Angaben zu verbürgen.

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