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Kettly Mars

Wilde Zeiten

»Ohne Schwarzweißmalerei liefert Kettly Mars eine vollkommene Beschreibung der Fallen dieses ­Regimes, das über dreißig Jahre lang denen, die in seine Klauen gerieten, nur das Exil als Ausweg ließ, auch wenn sie wie Nirvah glaubten, sich mit ihm arrangieren zu können. Ein starkes, mitunter ver­störendes Werk.« Gilles Biasette, La Croix

Inhalt

Haiti zu Beginn der Sechzigerjahre: Um ihrem inhaftierten Mann zu helfen, lässt die schöne Mulattin Nirvah sich auf eine Affäre mit dem Staatssekretär Raoul Vincent ein. Nach und nach ergreift der Emporkömmling Besitz von ihr und ihren Kindern und wird zur Metapher für die Herrschaft der Duvalier Diktatur über ein gelähmtes Land. Eine intimistische Schilderung von Situationen, in denen Gewissheiten und die Begriffe von Gut und Böse zerfallen, und zugleich ein spannender Politthriller.

Autorenportrait

Kettly Mars, geboren am 3. September 1958 in Port-au-Prince, Haiti erhielt eine klassische Bildung und arbeitete als Verwaltungsangestellte. Ab den 90er Jahren wurde sie in Haiti als Lyrikerin bekannt. Als Prosaautorin machte sie sich durch die Romane Kasalé (2003) und L’heure hybride (2005) einen Namen. Das Zweideutig-Unbestimmte, das in diesem Titel zum Ausdruck kommt, kennzeichnet auch ihren 2008 erschienenen Roman Fado.

In Deutschland wurde sie durch ihren Artikel über das Erdbeben in Haiti bekannt (»Ich habe überlebt«, DIE ZEIT vom 21.1.2010).

Leseprobe

Der Staatssekretär geleitet mich persönlich in sein Büro. Bereits an der Tür erfasst mich die Kälte des Raums. Vermutlich sind es fünf Grad weniger als im Warteraum. Wie kann man in dieser Eiseskälte leben? Schweres, vornehmes Mobiliar. Überall massives, dunkles Holz. Es herrscht sorgfältige Ordnung. Eine Neonlampe wirft einen grellen Lichtkreis auf eine Ecke des Schreibtisches. Eisig und trocken ist die Hand des Staatssekretärs, seelenlos sein Händedruck. Er trägt einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. Ein üblicher Aufzug. Bei seiner überdurchschnittlichen Größe verdeckt die tiefschwarze Haut sein Alter. Mitte vierzig, schätze ich. Vortretende Augen hinter dicken Brillengläsern, wulstige Lippen, eine kräftige Nase, deren Nasenlöcher einen wie ein zweites Paar blinder Augen anblicken. Sein wolliges Haar ergraut an den Schläfen. Ein Gesicht ohne jede Schönheit, das kein Geheimnis preisgibt. Unter der Jacke ahnt man einen leichten Schmerbauch. Ich merke plötzlich, dass ich dringend Wasser lassen muss, vermutlich der Kälte wegen. Als die Sekretärin ging, hat sie die Toilettentür des Wartezimmers verriegelt, ich halte schon ziemlich lange aus.

»Setzen Sie sich … Madame Leroy.«

»Danke … Exzellenz.«

Ein Moment verstreicht. Ich warte, dass der Staatssekretär das Wort an mich richtet. Er scheint es nicht eilig zu haben. Verhohlen betrachtet er mich mit einem merkwürdigen Ausdruck, als habe er ein Gespenst gesehen, doch fasst er sich schnell wieder. Danach meine ich ein zitterndes Lächeln auf seinen Lippen bemerkt zu haben. Im Sitzen ist der Druck auf meine Blase noch schmerzhafter. Ich richte mich auf, damit sich mein Körpergewicht eher auf meine Oberschenkel verlagert.
»Ich … ich bin in dringender Angelegenheit vom Präsidenten der Republik gerufen worden.«

Endlich spricht er mit mir, wenn auch in einem Ton, als rede er über das Wetter. Ich nehme an, dass die Auskunft als Entschuldigung für meine vier Stunden und zehn Minuten im Vorzimmer dienen soll. Aber ich lasse mich nicht täuschen. Diese beabsichtigte, berechnete Wartezeit legt das Drehbuch klar fest. Er hat mich in seiner Gewalt, kann mich mit seiner Macht retten oder vernichten. Ich bin in der schlimmsten Lage, in die ein Bürger des Landes geraten kann. Ausgesetzt dem legitimen Zorn der beleidigten absoluten Autorität, im Lager derer, die sich dem »Marsch der Revolution« entgegenstellen, der Verräter an der Sache. Genau hinter dem Sessel des Staatssekretärs gibt es eine Tür nach draußen. Sie nutzt er sicher, um ungesehen von der Fauna, die tagsüber vor seinem Büro lungert, den Präsidentenpalast zu verlassen oder zu betreten. Die Tür links von mir führt bestimmt zu einer Toilette. Der Staatssekretär holt ein Heft und einen Stift aus einer Schublade seines Büromöbels. Er beobachtet mich aufmerksam, aber so, dass ich es nicht merken soll. Ich spiele dasselbe Spiel.

»Hm … ich habe mich auf Vermittlung meines Freundes Doktor Xavier bereit gefunden, Sie hier zu empfangen, Madame.« Der Staatssekretär macht eine Pause. »Ein ausgezeichneter Internist, dieser Doktor Xavier«, verrät er mir in vertraulichem Ton. »Ein Mann, dem ich viel, sehr viel verdanke … er hat mir das Leben gerettet. Normalerweise nehme ich diese Art von … Beschwerden nicht entgegen. Aber ausnahmsweise … Name und Vorname Ihres … Gatten?«

Sein Ton ändert sich. Das leicht Süßliche in seiner Stimme erschreckt mich. Mein Herz droht mir die Brust zu sprengen.

»Leroy … Daniel«, sage ich in einem Atemzug.

»Alter?«

»Neununddreißig Jahre.«

»Beruf?«

»Professor für Philosophie, Recht … Geschichte.«

»Und außerdem?«, fragt mich der Staatssekretär und hebt eine Braue. Seine Stimme hat einen kalten Ton angenommen. Zum ersten Mal, seit ich im Raum bin, sieht er mich richtig an.

Ich bekomme eine Ahnung von der Eigenart des Staatssekretärs, einen zu verwirren, indem er unvermittelt Thema und Tonfall wechselt. Als wenn ein Läufer im Zickzack läuft. Wahrscheinlich eine Verhörtechnik, die ihm zur zweiten Natur geworden ist. Im Grunde weiß er alles über Daniel. Sein Alter, seine Verwandtschaft, seine wirtschaftliche Lage, seine Lehrstühle an der Universität, seine Zeitungsartikel, in denen er die Regierung kritisiert, seine Hautfarbe, das Datum unseres Hochzeitstags, die Vornamen unserer Kinder, alles. Seine Aufgabe besteht darin, alles über alle Daniels herauszufinden, die Sandkörner ins Machtgetriebe streuen, und sie zum Schweigen zu bringen.

»Journalist …«, füge ich leiser hinzu.

»Chefredakteur der oppositionellen Zeitung Le Témoin und Nummer zwei der UCH«, ergänzt der Staatssekretär wie nebenbei.
Stechende Schmerzen peinigen meinen Unterleib. Meine Blase kann nicht mehr, aber ich wage den Staatssekretär nicht zu fragen, ob ich seine persönliche Toilette benutzen darf. Wage nicht, ihn daran zu erinnern, dass ich einen Körper, eine Blase, eine Vulva habe. Er bekäme womöglich das Zischen des Urinstrahls mit. Ich möchte nicht, dass er sich vorstellt, wie verwundbar und entblößt ich im Nebenraum bin. In dem Moment erschiene mir diese weibliche Organfunktion wie eine Schwäche, eine Bedrohung meines eigenen Körpers. Wäre ich doch bloß nicht allein zu dieser Audienz gekommen! Trotz der Klimaanlage bildet sich Schweiß auf meiner Stirn. Doktor Xavier hat mir jedoch empfohlen, keine Begleitung mitzunehmen und meinen Schritt so geheim wie möglich zu halten. Alles, was die politischen Häftlinge betrifft, muss mit äußerster Diskretion behandelt werden.

»Wie lange ist Ihr Gatte schon … verschwunden?«

»Zwei Monate und einen Tag.«

Ich hätte jedoch gern hinzugefügt, was dem Staatssekretär bekannt ist, nämlich dass Daniel nicht verschwunden ist, sondern von drei Männern fortgebracht wurde, als er bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause kam, dass sie in unser Auto eingedrungen sind, das noch immer nicht wieder aufgetaucht ist. Es soll nämlich Zeugen für die Szene geben, aber man wird keine Untersuchung anstellen, und niemand wird aussagen. Der Staatssekretär legt den Stift ab, presst sich gegen seinen Sesselrücken und seufzt. Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Draußen wird es fast dunkel sein. Die Kinder warten auf mich. Seit Daniel Häftling ist, lernen sie die Angst kennen, werden vorzeitig erwachsen. Nur Doktor Xavier weiß, wo ich mich um diese Zeit aufhalte. Ich presse meine Beckenmuskeln zusammen, dass sie schmerzen, um das Wasser zurückzuhalten, das sich seinen Weg aus meinem Körper bahnen will.

»Wissen Sie, wo Ihr Gatte sich jetzt befindet, Madame?«

Die Stimme des Staatssekretärs ist wieder sanft und ernst.

»Nein … Exzellenz.«

»Sie lügen, Madame!« Der Staatssekretär lächelt, und seine Nase wird so platt, dass sie seine Oberlippe berührt. Er zeigt mir seine langen, gleichmäßigen, auffallend weißen Zähne. Ein Raubtierlächeln, das dieses unangenehme Gesicht ein wenig verschönt.

Mein Herz klopft heftig, ich komme mir vor wie ein beim Schwindeln ertapptes Kind. Was tun? Ich muss ihm die Wahrheit sagen. Mir bleibt nichts anderes übrig.

»Es … es liegt daran, dass ich dem Gerücht nicht traue, Exzellenz.«

»Und was besagt das Gerücht, Madame?«

»Dass Daniel … dass mein Mann sich im Fort-Dimanche befindet.«

»Im Fort-Dimanche … in der Tat«, versetzt der Staatssekretär mit einem langen Seufzer. Er macht eine Notiz. »Sehen Sie, Madame, das Gerücht in unserem Land ist ein zweischneidiges Schwert, eine unbarmherzige Waffe. Es befreit und verurteilt einen. Es kommt einen teuer zu stehen. Es kann einem Glück bringen, wenn auch nur für kurze Zeit. Es macht einen anfällig. Wie lautet Ihre Adresse?« Sein Tonfall wird wieder neutral.

»16, rue des Cigales …«

»Sind Sie mit Ihrem Auto gekommen?«

»Nein … ich bin mit dem Taxi gekommen … wir wissen immer noch nicht, wo das Auto meines …«

»Gut! … Schon klar! …«, unterbricht der Staatssekretär ärgerlich.

Unauffällig drückt er vor sich auf einen Klingelknopf unter der Tischplatte, und in den Tiefen des Ministeriums läutet es. Sekunden später öffnet sich die Tür hinter dem Sessel, und es erscheint ein großer, schlanker junger Mann mit gerötetem Teint, ein unbeholfener Bursche mit merkwürdigen Augenringen. Er ist in Hemdsärmeln und trägt eine Pistole in einem Lederetui an der rechten Seite. Während er näher kommt, betrachtet er mich verstohlen und bleibt lautlos neben dem Staatssekretär stehen.

»Jocelyn, bringen Sie Madame Leroy nach Hause. 16, rue des Cigales.«

»Ja, Exzellenz.«

»Madame, geben Sie nichts auf Gerüchte …«, sagt der Staatssekretär statt eines Abschiedsworts.

»Danke … Exzellenz.«

Zögernd stehe ich auf. Ich nehme an, die Audienz ist beendet; sie hat nach mehr als vier Stunden Wartezeit nur etwa zehn Minuten gedauert. Ein peinlicher Moment. Der Staatssekretär bleibt sitzen, wirkt plötzlich sehr erschöpft. Jocelyn geht zur Ausgangstür des Büros, ich folge ihm und bemühe mich, möglichst natürlich zu gehen. Der Blick des Staatssekretärs brennt auf meinem Nacken, meinen Schulterblättern, meinem Gesäß, meinen Waden. Draußen gehen ein paar Leute die Rue Saint-Honoré entlang. Weiter unten, auf der Rue de l’Enterrement, haben die Essenverkäuferinnen bereits ihre mit Kerosinlampen beleuchteten Stände aufgebaut. Fünfzig Meter entfernt ist die Westfassade des Nationalpalasts taghell erleuchtet, und Soldaten wechseln von einem Posten zum nächsten. Hinter mir erhebt sich auf dem Schattengrund gleich einer Sphinx die dunkle Masse der Dessalines-Kasernen. In diesem Gebäude befinden sich lauter Gefangene, hinter diesen dicken Mauern leiden und sterben Männer und Frauen. Der Mann namens Jocelyn öffnet mir eine rückwärtige Tür des langen schwarzen, vor dem Ministerium geparkten Wagens, und ich steige ein. Eine Silhouette aus dem Nichts nimmt den Platz vorn neben dem Chauffeur ein. Die Fahrt vom Präsidentenpalast nach Hause dauert etwa zwanzig Minuten. Bei jeder Wagenspur, die das Fahrzeug durchfährt, leide ich Höllenqualen, fürchte vor allem, mich auf der Sitzbank zu vergessen. Auf der Avenue John Brown ist der Verkehr eher schwach. Endlich sind wir am Ziel. Jocelyn steigt aus, um mir die Tür zu öffnen, der andere Beifahrer rührt sich nicht. Ich verziehe den Mund zu einem Dankeslächeln. Der Wagen fährt ruckartig an und wirbelt eine mächtige Staubwolke auf. In dem Moment wird mir bewusst, dass der Staatssekretär keinerlei Versprechen gemacht, keinen Termin mit mir verabredet hat und ich immer noch nichts über Daniels Schicksal weiß. Seine Haltung mir gegenüber verwirrt mich. Meine Anwesenheit schien ihm gleichgültig zu sein, ich habe aber in gewissen Blicken bei ihm das Aufblitzen des Raubtiers entdeckt. Mir ist, als blockiere ein Fremdkörper meine Luftröhre, ich kann nicht schlucken. Der Schmerz im Unterleib zieht in meine Beine, lähmt mich, ich beuge leicht den Oberkörper. Soll ich mich bücken und wie die herumziehenden Gemüsehändlerinnen auf den gestampften Gehsteig urinieren? Es ist niemand zu sehen. Das Haus ist still. Es herrscht jetzt Stromsperre. Hinter den Salongardinen leuchtet der Lichthof einer Kerosinlampe. Alles ist ruhig, ein berauschender Ylang-Ylang-Duft zieht mit der lauen Abendbrise herüber. In der Ferne grollt ein Gewitter, vielleicht wird es regnen. Ich schließe die Augen und hole tief Atem. Es ist wieder nur ein Abend in Port-au-Prince, die Zweige der Bäume zittern beim Zirpen der Zikaden wie jeden Abend in Port-au-Prince. Der Sommer verströmt einen warmen Pflanzenhauch. Gleich kommt Daniel mit seinem Duft nach Kreide und Zigaretten. Ich sehe schon, wie Marie und Nicolas die Köpfe über ihre Hefte beugen, wie Nicolas zu arbeiten vorgibt, während er sich auf die Katze an seinen Füßen konzentriert. Das Ende des Schuljahrs rückt heran. Ich zwinge mich zu einem Schritt, um das Tor zu öffnen, und spüre machtlos, wie der lauwarme Urin meine Beine entlang läuft und in meine Schuhe sickert.

Pressestimmen

Die Zeit, Hans Christoph Buch

Wilde Zeiten von Kettly Mars ist nicht nur literarisch ein großer Wurf – das Buch ist ein Meilenstein auf Haitis holprigem Weg zur Aufarbeitung seiner Vergangenheit. Die Duvalier-Diktatur von Papa und Baby Doc dauerte von 1957 bis 1986 und saugte das ärmste Land der westlichen Hemisphäre aus wie ein Vampir: […].

Das Buch von Kettly Mars ist so spannend wie Vargas Llosas Roman »Das Fest des Ziegenbocks«, und es rührt an ein Tabu: Der Klassenkampf zwischen der schwarzen Bevölkerungsmehrheit und der Mulattenbourgeoisie wird Ausländern gegenüber gern in Abrede gestellt […].

Papa Doc […] brüstete sich damit, einen Himalaya von Leichen angehäuft zu haben: Gemessen an der Bevölkerungszahl wurden in Fort Dimanche mehr Menschen ermordet als in Buchenwald, und der Roman von Kettly Mars ist schon deshalb lesenswert, weil er diese historische Tragödie dem Vergessen entreißt.

Auszug aus: Die Zeit, Hans Christoph Buch, 9. April 2013

Nürnberger Stadtmagazin »Plärrer«, Thomas Wörtche

Wilde Zeiten ist die Geschichte einer totalen Korruption unter totalitären Bedingungen […]. Literarisch komplex erzählt, ist die Story von Nirvah Leroy und dem Staatssekretär Raoul Vincent einer der eindrücklichsten und intensivsten Romane über die Verschränkungen des Privaten mit dem Politischen. Ein ganz großer Wurf!

Auszug aus: Leichenberg 5/2012 (Krimi-Kolumne des Nürnberger Stadtmagazins »Plärrer«), Thomas Wörtche

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